www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

   zurück   

Das Arbeitsplatzargument

Italiener streiten sich gerne. Türken auch. Franzosen auch, die machen gleich Streik und Revolution. Auch Amerikaner. Die erschießen sich. Das deutsche Volk streitet nicht gern. Es hält sich lieber an Regeln. Zur Vereinfachung hat sich in den letzten Jahren eine einzige Regel herausgebildet, die alle Streitigkeiten regelt. Sie lautet: Wer einen oder mehrere Arbeitsplätze schafft oder erhält, bekommt Recht.
Ich kann mich nur schwer daran gewöhnen.
Jetzt war doch erst das schwere Lawinenunglück in den Alpen, das Dutzende Skifahrer ins Unglück riß. Auf der ganzen Welt diskutierte man darüber, ob man die Natur nicht etwas zu sehr herausgefordert habe. In Deutschland dagegen war man sich schnell einig: Nein, nein, alles hatte seine Richtigkeit. Schließlich schafft der Skitourismus doch unzählige Arbeitsplätze!
Neulich passierte es mir, daß mich ein dicker Mercedes streifte, als ich mit meinem Fahrrad in der Stadt unterwegs war. Ich lag eine Woche im Krankenhaus, mein Fahrrad gar zwei Monate, ehe man jede Hoffnung auf Genesung aufgab, der Mercedes hingegen nieste kurz und verklagte mich vor Gericht. Ich war irritiert, da ich glaubte, angefahren worden zu sein, spekulierte in meiner Naivität sogar auf etwas Schmerzensgeld und ein neues Fahrrad, doch vor Gericht war die Angelegenheit eindeutig. Der Mercedes führte aus, daß durch sein Verhalten fünf Arbeitsplätze gesichert und einer neu geschaffen wurden: Zwei Arbeitsplätze in der Fahrradindustrie wurden gesichert, weitere drei im Gesundheitswesen, und einer neu geschaffen, weil der Mercedes eine Teilzeitkraft benötigte, um seinen Frontspoiler neu zu polieren.
Die Verteidigung hatte nichts Entlastendes vorzuweisen - die Theorie, ich hätte mich freiwillig vor den Mercedes geworfen, war nicht haltbar. So wurde ich dazu verurteilt, mir umgehend ein neues Fahrrad bei einem deutschen Hersteller zu kaufen. Der Mercedes verließ den Saal im sicheren Glauben, einmal mehr den Wirtschaftsstandort gerettet zu haben, im speziellen seine Villa, seine Aktien, seine Pension.
Ähnliches widerfuhr mir in den folgenden Wochen mehrere Male. Einer zerstörte mein Gartentor. Ich mußte zahlen. Einer trat mir gegen das Schienbein. Ich mußte mich behandeln lassen, ob ich wollte oder nicht. Einer verklagte mich einfach so. Ich würde zu wenig Geld ausgeben und damit der Wirtschaft schaden. Ich wurde zu einer Mikrowelle und einer Nacht im Maritim verurteilt.
Daraus habe ich gelernt. Von meinem restlichen verbliebenen Geld leistete ich mir verschiedene Haushaltshilfen: eine Köchin, einen Putzmann, eine Wäscherin, einen Handwerker, einen Gartentoröffner, eine Handtuchhalterin undsofort, 27 an der Zahl. Ich habe sie für ein Jahr bezahlt, danach würde ich im Prinzip in der Gosse landen. Aber mir kann nichts passieren. Denn damit würden ja die Arbeitsplätze zerstört.
Jetzt lebe ich mein Leben gelassen und luxuriös, wie ich es nie zu träumen gewagt hatte. Ich habe keinen Pfennig in der Tasche, aber wenn mir die Bank keinen Kredit geben will, verklage ich sie auf Arbeitsplatzzerstörung. Wenn mir jemand ans Fahrrad fährt und sechs Arbeitsplätze in die gerichtliche Diskussion einwirft, kontere ich mit 27 gefährdeten für den Fall, daß ich nicht Recht bekomme. Also bekomme ich Recht.
Ich habe mein Leben gemeistert. Es ist ganz einfach. Kein Streit, keine Revolution, klare Regeln, viel Luxus. Bin ich froh, daß ich in Deutschland lebe.