www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Das Arbeitsbuffet

Die meisten Menschen haben nur einmal im Leben die Möglichkeit, ihr Abitur zu schreiben. Wer das nicht auskostet bis zum Letzten, ist selber schuld.
Damit wir die viereinhalb Stunden dauernde Prüfung in Deutsch besser überstanden, hatten uns die Sekretärinnen ein kleines Buffet errichtet, auf einem schmucken Tischchen an der Seite des ansonsten tristen Raumes. So sollte jeder die Möglichkeit haben, sich eine Tasse Kaffee oder ähnliches zu holen, falls man drohte, in ein kleines Loch zu fallen.
Wir bekamen die vier Aufgaben ausgeteilt, aus denen wir eine bearbeiten mußten, und ich sah sie mir sorgfältig durch. Ich war auf alle Themen perfekt vorbereitet und hatte so die volle Auswahl. Um die vielleicht vorentscheidende Aufgabenauswahl nicht zu überstürzen, ging ich zunächst einmal leise zu dem Gabentisch, der von mir aus an der entgegengesetzten Wand stand. Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee ein, verschüttete ein gutes Stück – wohl aus Nervosität – und nahm daher zur Beruhigung noch einen Apfel mit. Auf halben Weg entschied ich mich, statt des Apfels ein Tellerchen Obstsalat zu wählen, da dieser von den Vitaminen her ausgewogener ist. Beim Umdrehen schüttete ich den Kaffee über das Blatt unseres Klassenprimus, der bereits eine Seite geschrieben hatte.
Nachdem ich die Sauerei beseitigt, ihn wieder beruhigt und mich auf meinen Platz begeben hatte, konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Die Sache war mir so schrecklich peinlich. Um den Fauxpas abzuhaken, holte ich ein Törtchen für den Klassenprimus, doch er lehnte mürrisch dankend ab.
Jetzt mußte ich mich um meine Aufgaben kümmern. Alle vier waren durchaus zu schaffen, aber irgendwie ungeschickt formuliert und kompliziert und denkaufwendig. Zum Denken fühlte ich mich an diesem Morgen eigentlich schon nicht mehr in der Lage. Ich holte einen Tee. Dann einen frischgepressten Orangensaft. Dann ein Mineralwasser. Schließlich doch wieder Kaffee.
Nichts half. Inzwischen spielte ich aufgedreht mit meinem Bleistift, zeichnete Comicfiguren auf den Tisch – für ein Thema aber konnte ich mich nicht entscheiden. Nach langem, zähem Überlegen und einer Banane, einem Stück Schokolade, einem Glas Milch ohne und einem mit Honig, einem Nutella-Brot und weiteren drei Tassen Fair Trade-Kaffee hatte ich eine Lösung. Ich loste.
Dazu besorgte ich mir vier Mon Cheries, in deren Verpackungspapierchen ich die Zahlen der Aufgaben schrieb und diese zusammenfaltete. Ich zog Nummer drei, und eben in diesem Augenblick bestieg mich das Gefühl, diese Aufgabe am wenigsten von allen zu mögen. Dann zog ich die Vier und dann die Eins und rang mich dazu durch, Thema zwei zu bearbeiten, einen Gedichtvergleich zwischen Mörike und Eschenbach.
Diesen Etappensieg begoß ich mit einem halben Liter Cola, einer Butterbrezel, einer Debrecziner-Wurst und einem halben Baguette. Die Überlegungen zur Einleitung wurden unterbrochen durch den extremen Drang nach einer Toilette. Ich mußte allerdings erst darum kämpfen, weil ziemlich viele mußten und immer nur einer durfte.
Vom langen Gang zur Toilette erschöpft, gönnte ich mir zunächst einen großen Teller Salat und ein bißchen Gemüse. Einem Stück kalte Pizza konnte ich auch nicht widerstehen. Der erste Schüler gab nach dreieinhalb Seiten ab. Ich mußte mich nun langsam sputen. Mein Bauch schmerzte.
Ich hoffte, dieses so störende Wehwehchen durch ein paar Tassen Tee zu beheben, vernaschte dabei ein paar Pralinen und einen Joghurt, eine gesunde Kiwi und zwei harte Eier. Dann zählte ich die Zeilen des Gedichts sowie die langen as und offenen os. Dann besorgte ich ein Dose Red Bull als Zeichen zum Endspurt. Denn ich realisierte, daß ich jetzt schreiben mußte. So schnell wie nur möglich. Nur noch schreiben, schreiben, schreiben.
Meine Blase drückte. Ich ignorierte das. Sie drückte heftiger. Ich biß die Zähne zusammen. Sie zerplatzte fast. Mir rannen die Schweißperlen von der Stirn. Die elf Zeilen, die ich geschrieben hatte, zerliefen. Es half alles nichts. Ich mußte nochmal aufs Klo, Abitur hin oder her. Denn nachdem der erste abgegeben hatte, durfte keiner mehr raus. Ich nahm mein Blatt mit der verschmierten, unfertigen Einleitung, klatschte es der Aufsichtsperson auf den Tisch, und rannte runter aufs Klo, jederzeit Gefahr laufend, auszulaufen.
Nachdem ich mich erholt hatte, wurde mir langsam bewußt, was geschehen war. Ich hatte soeben mein Abitur verschenkt! Und das nur wegen meiner Freßsucht. Frustriert, depressiv und zutiefst reuig kroch ich die Treppen wieder hinauf, um diese Schande vielleicht doch noch beheben zu können, legte mir meine Bettelformulierungen zigmal zurecht, nahm schließlich allen Mut zusammen, klopfte an die Tür meines Niedergangs, trat mit einem um Verzeihung winselnden Gesicht vor den Lehrer und fragte, ob ich noch ein Stück von dem Lachsfilet testen durfte.