www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum
Es war an dem Tag, an dem sich wie ein Lauffeuer das Gerücht
verbreitete, das Kühlsystem im Keller des Karlsruher Max-Planck-Instituts
sei ausgefallen und die dort gelagerte radioaktive Soße hochgegangen
und vermutlich ganz Europa innerhalb kürzester Zeit verseucht.
Der brave Gefreite Schweig hörte von dem Gerücht
auf dem Fußweg vom Bahnhof in die Altstadt. Da dachte er an den ungeheuren
Vorteil, der ihm als Soldat zuteil wurde, nämlich dem, sich im Besitz
einer Atomschutzdecke zu befinden. Also kramte er die Decke aus seinem
Rucksack, machte es sich auf den Pflastersteinen der Straße so gemütlich
wie möglich und schmiegte sich sorgfältig unter die Decke. Den
Rucksack verbarg er als Kissen unter dem Kopf, und wegen der Hitze zog
er seine Jacke und seine Schuhe aus. Das war nicht einfach, denn unter
der Decke war es Dunkel und eng. Und miefig.
Schließlich war er mit all den Verfeinerungen seiner
Lage fertig und fand, seine unter diesen Umständen angenehme Position
gefunden zu haben. Dann überlegte er sich, wie er die nächsten
50 Jahre rumkriegen sollte.
Na ja, dachte er, vielleicht kann ich es ja nach dreißig
Jahren schon wagen, ganz leicht unter der Decke hervorzuluken, ohne auf
der Stelle tot umzufallen. Er einigte sich auf realistische vierzig. Doch
auch vierzig Jahre waren eine verdammt lange Zeit. In vierzig Jahren würde
er 59 Jahre alt sein und wäre dem Ruhestand nahe. Und das, ohne etwas
gelernt zu haben. Ob man mit 59 Jahren noch studieren kann? Er wollte in
einem halben Jahr ein BWL-Studium beginnen, das war schon immer sein großer
Traum gewesen. Das mußte er nun verschieben. Aber, rechnete er sich
vor, wenn die Wirtschaft vierzig Jahre lang stillgestanden hat, dann braucht
man danach Betriebswirte um so mehr. Das machte ihn sehr zufrieden.
Eine Familie wollte er haben, eine hübsche Frau,
mindestens zwei hübsche Kinder, ein eigenes Auto oder zwei, ein Einfamilienhaus
am Rande der Stadt und einen großen Garten dahinter. Leider hatte
er noch nicht einmal eine Freundin. Nur immer die Kameraden beim Bund.
Dann mußte er sich sofort nach den vierzig Jahren eine Freundin suchen,
sein Studium durchziehen, reich werden, zwischendrin heiraten und Kinder
kriegen lassen. Mit 59? Jetzt machte er sich Sorgen. Er befürchtete,
in seinem Leben zu große Abstriche machen zu müssen.
Er würde es wohl schon nach zwanzig Jahren versuchen
müssen, wieder ein geregeltes Leben aufzunehmen. Wenn er es aber nicht
überlebte, so früh unter der Decke vorzukriechen? Dann hätte
er ja zwanzig Jahre umsonst gewartet.
Sollte er warten, bis ihm jemand von alleine sagte, daß
alles vorbei ist? Und wenn er der einzige war, der überlebte? Oder
wenn sich die anderen auch nicht trauten, unter der Decke vorzukommen?
Die Sache überstieg langsam seinen Horizont. Er
sehnte sich nach dem Unteroffizier, der immer eine schnelle Antwort parat
hatte, und nach seinen klaren Befehlen. Und nach seiner Mama, die ihn immer
tröstete. Und nach Manni, mit dem er immer Flipper spielte, um alle
anderen Probleme zu vergessen. Und er sehnte sich nach Bobo, seinem Hund,
der immer so viel Ruhe ausstrahlte.
Er wurde immer nervöser und bekam Hunger und mußte
aufs Klo. Für keines der Probleme wußte er eine Antwort. Er
beschloß, sich nicht fünfzig Jahre mit diesen drängenden
Fragen rumzuärgern, dann weder eine Freundin noch eine Arbeitstelle
noch ein Haus noch Geld zu haben. Und so riß er sich mit seiner ganzen
Soldatentapferkeit todesmutig die Decke vom Gesicht und lebte immernoch.
Er schaute nach rechts, schaute nach links, befand das
Treiben um ihn herum als durchaus normal, ignorierte die belustigt fragenden
Gesichter rings umher, stand auf und ging nach Hause zu seiner Mutter.
Die tröstete ihn, nachdem er ihr die fürchterliche Geschichte
abvertraut hatte, und sagte ihm, alles sei nicht so schlimm gewesen, nur
ein kleines Mißverständnis habe vorgelegen in der Überwachungszentrale.
Das Birnchen einer Kontrolleuchte war kaputt gewesen.