www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Bahn(p)reise

Wer bei uns viel Zug fährt, gewinnt Zeit, Lebensfreude, Geographie-Kenntnisse, Kontakte und beinahe alles, was er sich wünschen kann. Opfern muß er dafür nur eines: Geld. Und zwar alles, was er besitzt.
Er war der letzte Oktobertag, der Tag, an dem ich meinen Zivildienst quittierte. Weil ich bei meiner Freundin in Tübingen übernachtet hatte, mußte ich zunächst nach Stuttgart auf meine Dienststelle. Da ergab es sich zunächst so, daß der Fahrkartenautomat I streikte, der Fahrkartenautomat II eben der Reparatur unterzogen wurde, die Schlange an der Kasse zu lang und die Zeit zu knapp war. Also stürzte ich mich in den Zug, war zunächst froh, ihn erreicht zu haben, und kümmerte mich nicht weiter um die Fahrkarte. In der neuen, kundenfreundlichen Linie der Bahn ist das ja alles kein Problem mehr. Nur für mich. Der KiN (Kundenbetreuer im Nahverkehr) bestand nämlich auf 5,- DM Nachlösegebühr.
„Sie hätten gleich zu uns kommen müssen!“, sagte er mütterlich.
‘Sie hätten mir das auch sagen können!’, dachte ich bei mir.
Dann war ich so schlau, nur bis Plochingen zu lösen, da von Plochingen nach Stuttgart noch für diesen letzten Tag mein Ziviausweis galt.
Kurz nach Plochingen kam mein beliebter KiN wieder vorbei, betrachtete lange und schweigend meinen Ausweis, und meinte dann: „Da müssen Sie zahlen!“
Ich wehrte mich heftig und vergeblich. Die Zielorte hätten wohl in Großbuchstaben geschrieben sein müssen, was sie nicht waren.
„Geben Sie nicht mir die Schuld!“, sagte der KiN väterlich.
‘Rutsch mir den Buckel runter!’ dachte ich aufgebracht und zahlte 4,80 DM.
In Stuttgart war Großkontrolle. Ich war direkt erleichtert, als ich wegen meiner Jahreskarte, die ich an diesem Tag meiner Dienststelle zurückgeben mußte, nicht behelligt wurde.
Auf der Rückfahrt verhielt es sich anders. Ich hatte vergessen, daß ich nun – ohne Jahreskarte – ja ein Ticket benötigte, war gerade dabei, meine statistischen Chancen auszurechnen, wieder kontrolliert zu werden, da hielt mir auch schon ein junger Mann einen Ausweis unter die Nase und sagte: „Guten Tag! Bitte Fahrausweise vorzeigen!“ Ausweise hatte ich schon gar nicht, nicht einmal einen. Machte zehn Mark, dank Kulanzregelung, da konnte ich mich nicht einmal beschweren.
Ich schwor mir, es fortan nicht mehr darauf ankommen zu lassen, und löste für die Rückfahrt am Automaten eine Karte nach Tübingen zurück. Aus Gewohnheit drückte ich die Taste „50%“.
Im Zug lehnte ich mich zurück und streckte nach einigen Minuten dem KiN freudig meinen Fahrschein entgegen, von dem ich annahm, ausnahmsweise korrekt zu sein.
Aber nur zu fünfzig Prozent, denn der Ziviausweis war abgegeben, die BahnCard erst am nächsten Tag gültig, ich der Depp und weitere 15,20 DM ärmer.
‘Ist aber heute ein teurer Spaß!’ dachte ich mir und nahm mir vor, mein Leben lang nie wieder ein öffentliches Verkehrsmittel zu betreten, ohne mich innigst zu versichern, einen gültigen Fahrschein bei mir zu haben.
Ich hielt einen halben Tag durch. Dann passierte etwas, für das ich nicht einmal etwas konnte, das mir aber den Rest meines Oktober-Geldes entzog.
Als sparsamer Schwabe hatte ich mir für meine abendliche Fahrt nach Dortmund etwas ganz besonderes ausgedacht. Ich löste ein Guten-Abend-Ticket in Verbindung mit einer Euro<26-Karte, was eine erstaunliche Vergünstigung ergab. Ich vergewisserte mich auch diesmal wieder, daß ich das Ticket bei mir hatte, schaute noch einmal auf das Datum und die Bahnhofsangaben, vergewisserte mich sogar meiner Euro<26-Karte, behielt den Fahrausweis auch während der gesamten Fahrt in meinen schwitzenden Fingern, damit er sich auch nicht aus Versehen in Luft auflösen konnte, konzentrierte mich sogar auf ein freundliches Gesicht, als die Schaffnerin kam, und hatte wieder verloren.
„Was ist denn das für ein Ticket?“, fragte sie.
Ich sagte: „Ein Guten-Abend-Ticket in Verbindung mit einer Euro<26-Karte.“
„Einer was?“, fragte sie.
Ich sagte: „Euro<26-Karte.“
„Wie bitte?“, fragte sie erneut.
Ich sagte erneut: „Euro<26-Karte.“
„Das gibt’s bei uns nicht“, sagte sie.
Danach brach eine kleine Diskussion aus, in der ich recht hatte und die Dame mit dem blauen Hütchen am längeren Hebel saß. Unter lautem Protest mußte ich die gesamten 71,50 DM nach Dortmund bezahlen.
Das sind die Momente, die ein Leben verändern. Gleich am nächsten Morgen ließ ich sämtliche Vorlesungen sausen, marschierte auf den Bahnhof, protestierte, verhandelte, motzte, reklamierte, redete mir all meinen Frust von der Seele und ließ mir etwas ganz besonderes aufschwätzen: Eine Jahres-Fahrkarte für den gesamten Bereich der Deutschen Bahn AG. Kostenpunkt: läppische ungefähre 9000 Mark.
Jetzt bin ich stolzer Besitzer einer Universal-Fahrkarte, kann vor anderen Fahrgästen mit meinem ökologischen Gewissen prahlen, kann ohne zu Zögern in jeden x-beliebigen Zug steigen und hinfahren, wo immer ich will.
Und was das Größte ist: Diese Karte gilt sogar in allen Straßenbahnen! Hat man mir gesagt. Müßte auch so sein. Ich schau noch mal nach. Ach nein. Also, so ist das. Das hätten die mir aber – oh, Herr Schaffner! Wie? Fahrkartenkontrolle?