www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Beschwerdehotline

Eines muss ich zugeben: Die Idee ist bestechend! Nur leider hatte sie ein anderer vor mir.
Es fing damit an, dass ich Campus auf dem Weg zur Mensa einen Zettel in die Hand gedrückt bekam. Das ist weiter nicht dramatisch, es passiert einem mehrmals am Tag. Kommt nur drauf an, wie oft man zur Mensa geht. Meistens laden die Zettel auf irgendwelche Parties ein, weshalb man sie stets ignoriert, doch dieses eine Mal veranlasste mich eine einzige Zahl dazu, meine Augen nicht mehr von dem Papier zu nehmen. Darauf stand: „5.000.000,-“
Selbst wenn damit die gute alte Mark gemeint war, eine Menge Holz für einen mittellosen Studenten. Und nein, es war nicht der Party-Eintritt, es war ein Gewinnspiel. Alles, was man tun sollte, um eine Chance auf die fünf Millionen zu haben, war, eine Gewinn-Hotline anzurufen. Für einsvierundzwanzig in der Minute.
So ein Bluff, dachte ich, aber mit einem leichten Hang zur Schizophrenie dachte ich gleichzeitig: Wenn Du Dir diese Chance entgehen lässt... (Man denkt ja in diesem Moment weder an die eine Million Kinder, die davon eine Woche ernährt werden könnten, noch daran, dass sich das nur finanzieren lässt, wenn etwa vier Millionen Leute eine Minute lang vergeblich telefonieren.).
Also rief ich an.
„Herzlich willkommen bei der großen Gewinnspiel-Hotline“, begrüßte mich eine Stimme, „leider sind im Moment alle Leitungen belegt. Bitte warten Sie einen Augenblick.“
Man kennt das ja. Es ist mitunter unbegreiflich, wie lange Augen blicken können. Nach zehn Minuten gab ich auf und knallte den Hörer auf die Gabel – hätte ich einen gehabt! Heutzutage kann man nur noch resigniert einen Knopf drücken.
Ich hätte es bei dem 12,40 DM-Reinfall belassen können, doch nun war mein kleiner Trotzkopf schon dermaßen in seinem Element, dass ich das Glück, nein, vielmehr, dass ich die Gewinn-Hotline nun herausfordern wollte. So entschlossen war ich, dass ich ohne zu Zögern 4.990.000 Mark ausgegeben hätte, um die fünf Millionen endlich und glücklich zu ergattern.
Ich wählte erneut die Nummer.
Die Stimme, welche mich um Geduld bat, war mir schon vertraut, wenngleich ich mich wunderte, dass sie etwas belegt klang. Einmal war mir sogar, als hätte ich ein Räuspern vernommen, aber was bildet man sich nicht alles ein, wenn man stundenlang tatenlos vor dem Telefonhörer hängt.
Als ich schon nicht mehr an eine Erlösung glaubte, knackte es in der Leitung, und eine immer noch gleich klingende Stimme sagte mir, dass der Gewinn vergeben sei.
„Wenn Sie Beschwerde gegen das Losverfahren einlegen wollen, wenden Sie sich bitte an die Beschwerde-Hotline.“
Und die Stimme nannte mir eine weitere gebührenpflichtige Nummer.
Ich war in Rage. Man hatte mir nicht mal eine Chance gegeben! Wenn das kein Grund war, sich zu beschweren. Und schon hatte ich wieder das Knöpfchen gedrückt und die nächste Nummer ins Telefon gehackt.
Zu meiner Überraschung war mir die Stimme, die mir ins Ohr krächzte, gar zu vertraut, aber Computer neigen wohl seit jeher zur Monotonie.
„Leider sind alle unsere Ansprechpartner in Kundengesprächen. Bitte haben Sie etwas Geduld... Bitte haben Sie Geduld... Bitte ‘aben Sie Geduld...“
Da! Hatte nicht eben die Stimme versagt? Oder nur ein Übertragungsfehler? Ich verdoppelte meine Aufmerksamkeit.
„Bitte haben Sie Geduld... Bitte haben Sie Geduld... Bitte haben Sie Leguld...!“
Jetzt! Das war unüberhörbar! Der Computer hatte sich versprochen. Ich mutete meinem Gehirn sogleich einige logische Verknüpfungen zu und kam zu dem – in diesem Zusammenhang sensationellen – Schluss, dass Computer sich nicht versprechen. Unweigerlich sah ich das Gesicht der pausbackigen Rotschopfs vor mir, der mir am Mensaeingang mit dem Zettel aufgelauert hatte.
Ich redete ihn an. Hallo, sagte ich, ich weiß alles!
Die Stimme wurde wackelig, aber sie blieb in der Spur. Ich laberte auf sie ein, was ich konnte, aber sie wankte nur, fiel jedoch nicht. Da rannte ich mit dem Telefon in mein Zimmer, was Telefone zum Glück heutzutage zulassen, zog mit einer Hand die Kiste mit den Sportsachen aus dem Regal, deren Inhalt sich spontan auf den Fußboden verteilte, bis ich die Trillerpfeife im Mund hatte und aus vollen Lungen hineinblies.
Die Beschwerde-Hotline legte auf und war seither auch nicht wieder zu erreichen.
Nun, die fünf Millionen habe ich nicht bekommen. Im Gegenteil, die einseitige Unterhaltung mit dem Rotschopf war ein teurer Spaß. Zu meiner Beruhigung weiß ich immerhin, dass auch kein anderer einfach so fünf Millionen bekam. Aber ich weiß, wie ich sie über kurz oder lang doch bekomme. Ich kaufe mir Ohrenschützer und gründe eine Beschwerde-Hotline. Und eine Beschwerde-Hotline-Beschwerde-Hotline. Und eine Beschwerde-Hotline-Beschwerde-Hotline-Beschwerde-Hotline...