www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum
Die Adventszeit ist die Zeit der Besinnung. Irgendein
schlauer Meditatiosnguru hat in diesem Zusammenhang mal gesagt: Wer sich
nur eine Minute wirklich Zeit nimmt, dem wird diese Minute wie eine Ewigkeit
vorkommen. Nur eine Minute...
Doch genau hieran bin ich gescheitert.
„Nur eine Minute, nur eine Minute...“, so sagte ich mir
am Vorabend des ersten Dezembers beim Einschalfen immer wieder vor, um
mich mental auf diese wichtige Phase des Jahres vorzubereiten. Leider war
dies mit dem unerwünschten und doch wenig überraschenden Nebeneffekt
verbunden, dass ich auf diese Weise vergaß einzuschlafen und den
ersten Tag der besinnlichen Zeit mit Kopfschmerzen und geschwollenen Augenlidern
begann. An Besinnung nicht zu denken - stattdessen kroch ich ins Bad und
versuchte, mich im Spiegel wiederzuerkennen. Als das nicht gelang, beschloss
ich unter die Dusche zu sitzen und zu warten, bis dieses Leben vorüber
ist.
Wenige Stunden später meldete mein Mitbewohner Benutzungsansprüche
auf sein und mein Bad an, so dass ich wiederum meinen Plan ändern
musste. Eigentlich hätte während der ausgedehnten Dusche die
Besinnlichkeit lange genug Zeit gehabt, sich in mir auszubreiten,
doch das stetige Hämmern eines fiktiven Beton-Rüttlers von innen
gegen meine Stirn sowie die eher nüchterne Atmosphäre eines der
natürlichen Sukzession unterliegenden Badezimmers verhinderten derlei
Gefühle.
„Nur ein Minute, doch nur eine Minute...“, redete ich
mir unverdrossen ein und bemühte mich fortan, diese Minute im Tagesplan
kontinuierlich nach hinten zu schieben. Der Vormittag war mit Gesunden
blockiert und die Mittagszeit mit Mittagessen.
Kurz darauf der erste ernsthafte Versuch: Sorgsam nahm
ich mein Zimmer unter die Lupe auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit,
die den Ansprüchen an eine besinnliche Atmosphäre genügten.
Ich hätte mir natürlich denken können, dass eine derartige
räumliche Situation in einem Studentenzimmer während der Diplomarbeit
nicht zu finden ist. Kurzentschlossen verbrachte ich daher den Nachmittag
bei IKEA, um besinnliche Tücher zu besorgen, hinter denen sich die
Diplomarbeit für wenigstens eine Minute verstecken konnte.
Beim Anbringen der Tücher drang ich in Ecken des
Zimmers vor, die ich seit dem Einziehen nicht mehr besucht hatte, stieß
völlig überraschend auf ein altes Buch, welches im Titel verblüffende
Hilfestellungen für die Diplomarbeit erwarten ließ, so dass
ich die Besinnlichkeitsunterstützungsumbaumaßnahmen ruhen ließ,
einige Sätze laß und von einem tiefen, dem sogenannten „Leseschlaf“
übermannt wurde.
Beim Erwachen begrüßten mich die schönsten
fünf Minuten des Tages. Das waren jene, in denen ich vergessen hatte,
dass der Advent begonnen hatten. Doch die halb aufgehangenen Tücher
holten mich in die traurige, da bislang zu wenig besinnliche Wirklichkeit
zurück.
„Jetz aber mal im Ernst!“, macht ich mir Mut, „nur eine
Minute...“
Falls das Raumklima stimmt. Daher: Tücher an die
Wand. Tücher vors Regal. Tücher vor den Schrank. Heizung an.
Fenster auf. Fenster wieder zu. Heizung kleiner. Heizung wieder höher.
Duftlampe raus. Duft rein. Duft auf den Teppich. Haushaltstücher drüber.
Fenster wieder auf. Heizung noch höher. Fenster wieder zu. Anderer
Duft. Wieder Papierhandtücher, wieder Fenster, Heizung, Duft, Teppich,
Tücher, Fenster, fertig.
Perfekt.
Ich nahm Platz und besinnte mich.
„Ich besinne mich. ich besinne mich. Nur eine Minute.
Ich bin ganz ruhig... das Zimmer ist ruhig... selbst der Rechner ist ruhig...
ich denke auch gar nicht an den Rechner... auch nicht ans Internet... was
sich wohl hinter der Adresse www.advent.de verbirgt?“
Ich schnelle hoch. Es ist wie eine Sucht. Der Gedanke
an eine der Abermilliarden Web-Seiten, die man noch nicht kennt, lässt
mir den Atem stocken. Ich muss es wissen! Jetzt! Genau, wie ich einst mit
einem Mal wissen musste, was sich hinter www.schlussmitlustig.de oder www.gott.de
verbarg. Vorbei also alle Besinnung. Kurzer Blick zur Uhr. Fünf Sekunden.
Keine Minute. Verdammt. Aber dennoch: Rechner an, rein ins
Internet. Nachschauen.
Es hat nichts mit Advent zu tun. Kein Kalender, keine
Rezepte, keine Basteleien. Schade. Es ist eine Internet-Firma. Zutiefst
unbesinnlich. Doch ein Link führt zu einem Städtenetzwerk. Da
ist sie schon wieder vor Augen, die Diplomarbeit, wenn auch nur äußerst
indirekt, doch die Spur wittere ich, und so verstreicht der Abend unbemerkt
im weltweiten Netz.
Kurz vor Mitternacht realisiere ich mit ausgetrockneten
Augen, knurrendem Magen und steifem Nacken, dass ich noch keine sechs Sekunden
besinnlich war an diesem Tag, im Gegenteil: aufgekratzt war ich und nervös,
wie würde mir eine Minute ruhe gut tun!
Panisch hacke ich in den Rechner: „www.nureineminute.de“.
Doch keine Hilfe. Fehlanzeige! Diese Adresse gibt‘s nicht. Noch nicht.
Denn ein Strahlen schleicht sich in meine ach so trockenen Augen: Auf der
Stelle melde ich die Seite www.nureineminute.de an. es wird eine Selbsthilfe-Seite
werden für Leute, die Schwierigkeiten mit dem Besinnen haben.
Nachts um vier ist der erste Entwurf fertig. Nun
bin ich doch noch zufrieden. Gerne möchte mich nun für eine Minute
zurücklehnen und irgendjemandem Danke sagen für den geretteten
Tag. Doch in dem Moment, in dem ich mich aufs Sofa setze, schlafe ich auch
schon völlig übermüdet ein. Keine guten Voraussetzungen,
um am anderen Tag doch noch in die Zeit der Besinnlichkeit einzusteigen.