www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum
Unsere Welt ist herzlos. Die Menschen hasten nur noch
aneinander vorbei, keiner traut dem anderen über den Weg. Hilfsbereitschaft
und Solidarität sind ausgestorben. Ich weiß nun auch, warum
das so ist. Die Menschen fürchten sich schlicht vor einer Situation
wie der folgenden.
„Entschuldigen Sie.“
Normalerweise verbirgt sich hinter dieser Floskel, so
sie unerwartet von der Seite ausgesprochen, das pure Böse. Man entwickelt
einen Instinkt, der einen in diesen Augenblicken den Kopf abwenden und
die Bitte ignorieren lässt.
„Entschuldigen Sie.“
Es passierte auf dem Heimweg von der Uni. Urplötzlich.
Unerwartet. Ein echtes, Gefahr verheißendes „Entschuldigen Sie.“
Nein, eigentlich wollte ich nichts entschuldigen, erst
recht nicht das Ansinnen, mich kurz vor Feierabend aus dem seelischen Gleichgewicht
zu werfen.
Doch mein Instikt war in diesem Augenblick auf eine „Entschuldigen
Sie“-Attacke schlecht vorbereitet, weil erst am selben Tag schon einmal
ein solcher „Entschuldigen Sie“-Mensch meinen Weg gekreuzt hatte, der dann
doch nur nach dem Weg fragen wollte.
Dieser nun nicht.
„Entschuldigen Sie. Ich habe meine Rückfahrkarte
und meinen Behindertenausweis verloren und habe kein Geld mehr, um nach
Hause zu kommen. Haben Sie vielleicht 19,90 Mark für mich?“
Patsch. Mitten rein in die gute Feierabend-Laune. Das
Böse lauert überall. Nein, nicht unbedingt in Person des Entschuldigers.
Viel abstrakter, viel subtiler. Das Böse besteht darin, dass man in
dieser Situation damit überfordert ist, zu entscheiden, wer oder was
böse ist.
Ist die Welt böse und raubt einem armen Menschen
alle Möglichkeiten, nach Hause zu kommen? Oder ist doch der Mensch
böse, weil er einem vorlügt, ein armer Mensch zu sein, dem jede
Möglichkeit genommen wird, nach Hause zu kommen.
Ich zögere.
„Bitte...“
Es muss doch eine Möglichkeit geben, herauszufinden,
ob er die Wahrheit sagt. Ich frage ihn, warum er nicht zu Bahnhofsmission
gehe.
„Die wollen mich bis Montag ins Obdachlosenasyl stecken.“
Bis Montag? Was soll am Montag anders sein? Erst im Nachhinein
bin ich in der Lage, diese Frage zu stellen. In diesem Moment bin ich zu
irritiert. Dennoch stelle ich Fragen, aber andere. Ich weise auf die Beförderungspflicht
der Bahn hin.
„Machen die aber nicht“, sagt er.
Ich runzle skeptisch die Stirn, und um seine Aussage
zu unterstreichen, ergänzt er: „Ich bin doch schon vom Bahnhof bis
hier her gelaufen!“ Dabei schießen dem Mann Tränen in die Augen.
Ich zucke innerlich zusammen. Ein menschliches Schicksal
tut sich vor mir auf. Die Tränen drücken aufs Gewissen und hindern
mein Gehirn daran, klar zu denken. Hätte es klar gedacht, hätte
es vielleicht folgende Fragen gestellt: Zur Uni? Was soll denn das bringen?
Da es aber nicht klar dachte, fingerte meine Hand schon
zaghaft an meinem Portmonee herum.
„Ein bisschen Geld habe ich schon zusammen. Bitte, nur
noch dreißig Mark.“
Dreißig? Waren es nicht eben noch zwanzig? Ich
wünschte, ich hätte gefragt, was mir inzwischen so naheliegend
erscheint. Doch gebannt im Augenblick, bin ich nicht in der Lage, konsequent
nachzuhaken. Ich stelle nur, Hilfsbereitschaft heuchelnd, die Frage nach
dem Ziel seiner Reise.
„Hamburg.“
Wieder drängen sich eine Reihe weiterer Fragen auf.
Wieso Hamburg, wo er doch spricht wie ein Dortmunder? Und warum um alles
in der Welt läuft er dann zur Uni, die in der gegengesetzten Richtung
liegt? Ach, man hätte so vieles fragen können! Welche Rolle spielt
bei alledem ein verlorener Behindertenausweis? Was hat es mit dem Personalausweis
auf sich? Auch verloren? Kann er gar niemanden anrufen, der ihm weiterhilft?
Wo war er denn dann mit der Fahrkarte hingefahren? Nun, all dies werde
ich kaum je erfahren.
Denn da es mich restlos überforderte, mich zum Richter
aufzuschwingen über die Frage, ob der gute Mann es verdient hatte,
meine Hilfe zu erhalten oder nicht, und weil es mich noch viel mehr überfordert
hätte, ihm zu sagen, dass er meine Hilfe nicht verdient, drückte
ich ihm, einen armseligen Kompromiss eingehend, fünf Mark in die Hand,
worauf er sich artig bedankte und ein schönes Wochenende wünschte.
Es bleibt ein zerfressenes Gewissen. Ich glaube ja, dass
er log. Ich weiß es aber nicht. Und so kann ich mich entweder dafür
ohrfeigen, ihm nicht geholfen zu haben, oder dafür, ihm auf den Leim
gegangen zu sein, die falschen Fragen gestellt zu und keine Ahnung über
die Wahrheit zu haben.
Hätte der Kerl doch nur einfach gesagt, dass er
ein armes Leben führt, die Sozialhilfe nicht reicht, und er nicht
weiß, was er heute abend essen soll. Obwohl, dann hätte mein
Abwehr-Instinkt vermutlich nicht versagt und ich wäre einfach weitergegangen.
Vielleicht ist der Mann gar nicht so unclever.