www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Das Beziehungswettbüro

Die letzte Shell-Studie beweist es: Wir, die heutige Jugend, wir haben keine Angst mehr vor der Zukunft. Öko sein, sozial sein, sich Sorgen machen um die Welt, das ist was für die Älteren. Deshalb sind die auch alle arbeitslos. Wir, die Jungen, denken erstmal an uns selber, nehmen unser Schicksal aber auch in die Hand, gründen schon in der Schule eigene Firmen und verdienen richtig viel Kohle. Zumindest wenn man Ahnung von Computern hat. Ich hab keine davon. Dafür habe ich Ahnung von Menschen. Und verdiene noch viel mehr!
Ich habe es vermocht, meine Fähigkeit optimal unternehmerisch umzusetzen. Nein, Quatsch, nichts mit psychologische Beratung und so – ein Wettbüro habe ich gegründet, das ist trendy, ein Wettbüro! Und zwar eines, in dem man auf Liebesbeziehungen wetten kann. Alle in der Klasse machen schon mit und sind süchtig und werden arm.
 Der Trick ist ein ganz einfacher und funktioniert immer wieder. Ich beobachte genau, wie sich die Konstellationen zwischen Mädchen und Jungs verhalten, was dadurch erleichtert wird, dass wir alle zusammen in ein klösterliches Internat gepfercht worden sind, und warte, ja, im wesentlichen warte ich einfach ab.
Bis einmal nichts passiert. Das ist wichtig. Es darf nichts passieren. Gähnende Langeweile muss herrschen, erotische Eiszeit, Eiszeit, ja, das ist gut, November oder Dezember sind lukrative Monate, da schlage ich besonders gerne zu.
Und das geht so: Wir stellen uns vor, es ist November, die Jungs haben sich von uns Mädels gerade noch den Namen merken können, ansonsten sind wir uninteressant geworden, weil alles schnupft und niest statt duftet und lächelt, und Schichten über Schichten aus Schals und Jacken das Geschlecht verwechselbar machen.
Die perfekte Ausgangssituation. Ich beginne von einem Tag auf den anderen damit, mich bevorzugt in der Gegenwart eines bestimmten Jungen aufzuhalten, nennen wir ihn mal Knut. Knut merkt das nicht einmal, denn er gehört zu den Vergesslichen unter den Jungs und weiß bereits meinen Namen nicht mehr, obwohl er mich letzten September mal um einen Zirkel gebeten hatte.
Knut mag ein Trampel sein, meine Freundinnen hingegen sind das nicht, sie schauen aufmerksamer und hören gespitzter, und vor allem: Sie machen sich ihre Gedanken. Warum geht sie immer zu ihm? Ausgerechnet im November? Dann muss da schon was Besonderes sein! Und wie er es auffällig zu verbergen versucht, dass er sie mag! Dabei möchte er nicht mal ihren Namen aussprechen vor Erfurcht.
Daher: Das Wettbüro ist geöffnet! Und wieder fallen alle, alle darauf rein und setzen wie die Wilden auf Knut und mich als neues Liebespaar. Alle tun das. Durch die Bank. Bis auf Knut. Er wollte ja auf sich wetten und – eben, ihm ist der Name entfallen.
Der nächste Schritt ist, abgesehen von dem lästigen Abschütteln eines gewissen Kerls namens Knut, selbst auf ein völlig anderes Paar zu setzen, ziemlich willkürlich, etwa auf Lisa und Klaus.
Danach beginnt, zugegebenermaßen, der anstrengendste Teil, stundenlange Einzelgespräche, Verunsicherung, Heulen, Davonlaufen, Zurückkehren. Nein, natürlich nicht ich mache das durch. Lisa und Klaus machen das schon  selbst. Ich begleite sie nur dabei.
Der Einstieg ist einfach. Ich gehe auf Lisa zu und sage: „Du bist so anders in letzter Zeit!“
Sie hebt die Augenbrauen.
„Liegt das daran, dass Klaus immer zu Dir rüberschaut?“
Ein Fragezeichen leuchtet auf ihrer Stirn.
„Ich finde, du vernachlässigst mich schon ein wenig.“
Das Herz beginnt zu schlagen.
„Ich verstehe dich ja, ich meine, süß ist er ja schon.“
Das war’s bereits. Dann erzähle ich ihrer Freundin Gabi dasselbe, damit sie künftig gründlich auf Lisa einredet, ohne zu ahnen, Teil meines Plans zu sein. Klaus muss ich natürlich auch noch überzeugen, aber das geht mal eben in der Fünfminutenpause, Männer sehen solche Dinge nicht so emotional. Schließlich nehme ich Lisa nochmal zur Seite und vertraue ihr flüsternd an: „Ich habe auf Dich gesetzt.“
Und von diesem Augenblick an weiß sie, dass sie keine Chance mehr hat, denn es ist lange bekannt, dass ich immer auf die Richtigen setze in diesem Spiel, daher muss sich Lisa einen Ruck geben und Klaus ihre noch unsichere, aber heimlich bestimmt schon immer verspürte Liebe gestehen. Klaus ist sich verständlicherweise auch noch nicht ganz sicher, daher das Weglaufen und Heulen und Wiederkommen, doch ganz gewiss fällt der erste Kuss, noch ehe es wieder wärmer wird draußen, und ich kassiere das große Geld, verbunden mit dem Hochgefühl, zwei Menschen wirklich glücklich gemacht zu haben. Für einen halben Tag. Denn länger halten die Beziehungen selten. Ohne meine ständige Pflege klappt es wohl nicht.
Mein Problem soll’s nicht sein, so bleiben viele Kandidaten im Rennen, und das Geschäft blüht. Nur eines darf nicht passieren: Was dem Informatiker die Viren, das sind mir die Hormone. Denn verlieben, das darf ich mich in diesem Business nicht. Das könnte so richtig, richtig teuer werden.