www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Der bequemere Weg

„Ersatzdienst leisten ist der bequemere Weg!“, hat der Herr mit der Weste und der Deutschland-Flagge im Hintergrund jedem zornig eingebläut, der sich im Kreiswehrersatzamt des Alb-Donau-Kreises auf Herz und Nieren und Wehrfähigkeit prüfen lassen mußte. Er hat nicht Recht behalten. Im Gegenteil: Den Wehrdienst zu verweigern, ist der umständlichere Weg, um bei der Bundeswehr zu landen.
Drei Monate nach meiner Musterung und gleichzeitiger Verweigerung erhielt ich meine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer und machte mich daran, mir eine Ersatzdienststelle zu suchen, gemeinhin ‘Zivistelle’ genannt. Da das Verweigern der bequemere Weg ist, muß man sich nämlich um alles selbst kümmern. Man hatte mir aber eine Liste mit Adressen und Telefonnummern mitgegeben, aus denen ich mir diejenigen im Bereich des Sanitärdienstes herauspickte.
Zuerst rief ich beim Deutschen Roten Kreuz an, genauer gesagt bei Herrn Kramer. Der meinte, für Zivildienststellen sei Herr Siever zuständig und verband mich mit Frau Schneider. Die gab sich etwas überrascht, verband mich aber hilfsbereit weiter an das Vorzimmer von Herrn Siever. Nach zwölf Minuten „Wochenend und Sonnenschein“- Wartemelodie kam ich dort an. Die Frau im Vorzimmer fand nach längeren Untersuchungen heraus, daß Herr Siever derzeit im Urlaub sei und erst in acht Tagen wiederkomme. Solange solle ich mich an Herrn Kramer wenden. Und ehe ich widersprechen konnte, knurrte mir aus der Muschel ein müdes „Kramer“ entgegen, einen Halbsatz später dann ein „Haben Sie nicht vorher schon angerufen?“. Ich erklärte ihm, daß es sich noch immer um denselben Anruf handle, worauf er sich entschuldigte und mir einen Termin in elf Tagen gab. Elf Tage später fuhr ich mit der Bahn und drei Buslinien zur Geschäftsstelle des  Deutschen Roten Kreuzes und erfuhr, daß für dieses Jahr alle Zivildienststellen bereits vergeben seien.
Kaum mehr Glück hatte ich beim Arbeiter-Samariter-Bund. Bei meinem ersten Anruf empfing mich freundlichst ein Automat, der mir mit einer sanften Frauenstimme mitteilte, daß der ASB inzwischen unter der Nummer 0731/456-432 zu erreichen sei. Unter der Nummer 0731/456-432 meldete sich dann eine weniger sanfte Frauenstimme und sagte: „Kein Anschluß unter dieser Nummer...“ Die schrille Frauenstimme der Telefon-Auskunft ermittelte mir die Nummer 0731/486-432. Also läutete ich diese Nummer an. Diesmal meldete sich eine Männerstimme. Sie teilte mir mit, daß der Arbeiter-Samariter-Bund noch nie Stellen für Zivildienstleistende angeboten habe.
Da ich mich als pazifistisch angehauchter Kriegsdienstverweigerer aber bekanntlich durch nichts aus der Ruhe bringen lasse , versuchte ich daraufhin klaglos mein Glück bei der Johanniter-Unfall-Hilfe. Die ersten neun Anrufe lang war der Anschluß belegt. Die nächsten sieben Male war der zuständige Bearbeiter, Herr Woslow, in der Cafeteria. Dann flog ich drei Mal beim Vermitteln aus der Leitung. Beim zwanzigsten Anruf war Herr Woslow in einer wichtigen Besprechung. Ich wartete in der Leitung 35 Minuten. Dann war Feierabend. Am nächsten Tag brauchte ich nur dreizehn Anläufe, um zu erfahren, daß Herr Woslow dienstags nicht arbeite. Am Mittwoch um 16.53 Uhr, nach 17 Telefongesprächen, bekam ich einen Termin für ein Vorstellungsgespräch als Aushilfsraumpfleger.
Nach einer anstrengenden vierstündigen Reise als Tramper, langem, verwirrenden Fußmarsch durch Stuttgart – die Telefongespräche hatten mein Taschengeld aufgefressen – und zwei unterhaltsamen Stunden im Vorzimmer saß ich Herrn Woslow gegenüber. Gerade war ich dabei, meine Unterlagen aus meiner Tasche zu kramen, als Herr Woslow sich erhob und ans offene Fenster stellte, die Sonne hinter der vernebelt verseuchten Stadtluft betrachtete und sagte: „Machen Sie sich doch lieber einen schönen Tag, Herr... Mir ist aufgefallen. Die ihnen gefallende Stelle haben wir vor zwei Jahren gestrichen.“ In einem plötzlichen, mir gänzlich unbegreiflichen Anfall rasender Wut schleuderte ich meine Tasche nach Herrn Woslow. Er verlor unglücklicherweise das Gleichgewicht und kippte aus dem Fenster des siebten Stockwerks der Geschäftsstelle.
Daraufhin sah das Kreiswehrersatzamt die Gewissensgründe meiner Verweigerung als hinfällig an. Ich wurde eingezogen und kam durch ungünstige Umstände beim Anlanden eines Beibootes an der kroatischen Küste ums Leben. Das hätte ich auch einfacher haben können.