www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Der Kindergeburtstag

Männer – böse Zungen behaupten ja, sie blieben ein Leben lang Kinder. Und böse Zungen haben, das weiß ich aus eigener Erfahrung, immer Recht. Da Männer aber gleichzeitig Berufe ausüben müssen und Krawatten binden, kommen ihre kindischen Züge häufig nicht zum Tragen. Umso eifriger geben sie sich dann, wenn sich einmal die Gelegenheit bietet, endlich wieder kindisch – nein, den eigenen Kindern etwas Kindgerechtes zu bieten. Etwa bei einem Kindergeburtstag. Doch zuviel Eifer tut selten gut.
Mein erster Kindergeburtstag als Mann-Kind ergab sich eher zufällig. Ich erfuhr davon, als ich spätabends nach der Arbeit nach Hause kam und meine Frau in einem Meer aus Tränen vorfand. Daneben stand unser Sohn Alexander und sagte strahlend: „Morgen ist Kindergeburtstag! Ich habe schon alle aus meiner Klasse eingeladen.“
Ein Kindergeburtstag! Mein Herz begann auf der Stelle zu hüpfen, meine Gedanken füllten sich mit blühenden Fantasien und meine Augen mit Feuchtigkeit, aber in anders gearteter Form als bei meiner Frau. Ein Kinder-geburtstag! Schon morgen! Nur eine Lok für die Modell-bahnanlage hätte mich mehr erquickt. Was spielte es da für eine Rolle, dass Alexander eigentlich erst in sieben Monaten Geburtstag haben und neun werden sollte.
Ich nahm mir sofort für den nächsten Tag Urlaub und  begann dann, meine Frau wieder zur Fassung zu bringen mit den markigen Worten: „Du brauchst Dich um nichts zu kümmern. Ich mach‘ das schon.“
Meine Frau heulte erneut auf. Wie sehr sie mir vertraute! Ich nannte sie wenig kinderlieb und begann mit den Vorbereitungen.
Kinder brauchen Platz. Also räumte ich das Wohnzimmer leer, verstaute Sofa und Sessel im Schlafzimmer, Tische und Stühle in der Küche, nur Regale und Schränke mussten stehen bleiben. Dann ging ich in mich und erinnerte mich lustiger Spiele. Das nahm einige Zeit in Anspruch, da viele Erinnerungen sich vor meinem inneren Auge auftaten und mich zu regelmäßigen Lachern hinrissen, die gut zum Rytmus der Schluchzer meiner Frau passten. Spät in der Nacht kletterten wir über Sesselberge in die Betthälfte meiner Frau (meine Seite war vollgestellt) und schliefen kaum, teils aus froher Erwartung, teils aus panischer Angst.
Kinder müssen genügend Essen. Das fiel mir am anderen Morgen unvermittelt ein, und ich beauftragte meine Frau, einige Kuchen zu backen, vor allem einen Marmorkuchen, ein Marmorkuchen durfte nicht fehlen.
Ich selbst fuhr mit dem Wagen einige Male zum Einkaufen und besorgte Berge von Smarties, Pappteller und Plastikbecher, Luftschlangen und Luftballons, und Unmengen an Cola, Fanta und Sprite. Meine Frau, so sie einige Augenblicke aus ihrer Küche konnte, erinnerte mich an meine grünen Ideale, etwa als ich gerade die sechste Ladung Pastiktüten auf dem Wohnzimmerboden ausbreitete, doch ich war mit meinem Gewissen im Reinen. Schließlich geht es um die Zukunft unserer Kinder. Und die steht und fällt nicht nur mit einer intakten Umwelt, sondern auch mit einer glücklichen Kindheit. Und zu einer glücklichen Kindheit gehören Kinder-geburtstage mit Papptellern und Plastikbechern.
Ich dekorierte den Raum, errichtete ein Smarties-Buffet,   aß zum Mittag einige Schachteln Smarties mit meinem Sohn und wartete mindestens ebenso aufgeregt wie er auf die eintreffenden Gäste.
Einige turbulente Szenen später saßen drei Dutzend Kinder mit Zeitungshüten auf dem Kopf auf unserem Wohnzimmerboden und plantschten in heruntergefallenen Smarties. Stolz präsentierte ich den Marmorkuchen und machte ein oder zwei akademische Witze, über die niemand lachte. Machte nichts. Dafür lachten sie um so mehr, als mir beim Aufschneiden des Kuchens derselbige vom Teller glitt und auf dem Boden zerbarst.
„Wir machen jetzt ein Spiel!“, heizte ich die Stimmung im Saal ein. „Es heißt: Wohin fährt das Schiff?“ Der genaue Inhalt war mir zwar nicht mehr bekannt, aber ich wusste, dass wir ein Schiff brauchten, etwa den Couchtisch, der in der Küche lagerte, ein Meer brauchten wir hingegen nicht mehr, es bestand bei uns aus Smarties und Kuchenkrümeln.
 Das Spiel ging so, dass alle Passagiere auf dem Schiff standen und je nach den Befehlen des Kommandanten nach Steuer- oder Backbord rennen mussten. Nun, das Boot war mit über dreißig Achtjährigen gut besetzt und schwankte bedrohlich in der See, und schon beim ersten „Backbord“ rannte die eine Hälfte nach links und die andere nach rechts, Köpfe krachten aneinander, Kinder fielen ins Wasser, Sekunden später der ganze Tisch um und die Kinder gegen das Bücherregal und dieses in sich zusammen.
Am liebsten mochte ich früher immer die Geburtstage, die unter einem Motto standen. Ich schlug vor, diesen Geburtstag „Auf hoher See“ zu taufen, und wollte ein neues Spiel mit Haien im Meer aus Smarties, Kuchen-krümeln und Büchern einführen, doch leider misslang mir die Überleitung, da die Kinder nichts mit dem Begriff „Hydrotop“ anzufangen wussten, und so langweilte sie bald das Thema „Auf hoher See“ und wir beschlossen – schließlich zeichnet sich ein guter Spielleiter durch Flexibilität aus – wir beschlossen also, Fußball zu spielen.
Schnell waren durch geschickten Pulli-Tausch faire und erkennbare Mannschaften gebildet. Nur Tore fehlten noch. Ich bestimmte den angeknaksten Coachtisch als das eine und suchte etwas vergleichbar Großes als das andere Tor. Zwei nebeneinander liegende Türen des Schrankes schienen dem zu entsprechen. Um es besonders echt zu machen, hängte ich die Türen aus und räumte die Gläser beiseite, denn ein Tor muss sich dadurch auszeichnen, dass ein Ball hineinfliegen kann, und nicht dadurch, dass ein Ball daran abprallt.
Es wurde ein unvergesslicher Geburtstag, genau so, wie ein richtiger Kindergeburtstag eben sein muss. Die Kinder tobten und schrien und kreischten und hatten ihren Spaß, grätschten sich durchs Wohnzimmer, hechteten durch Smarties und Kuchenkrümel, zerschossen Lampen und Schränke, feierten Tore und Spektakuläres, und wollten gar nicht mehr nach Hause gehen.
Wegen mir wäre das kein Problem gewesen. Doch pünktlich um 18 Uhr standen einige Dutzend Eltern vor der Türe, forderten die Herausgabe ihrer Kinder, versuchten diese und die passenden Pullis unter einer dicken Schicht angepappter Schokolade wieder-zuerkennen und fuhren angewidert nach Hause. Nein, das ist nicht korrekt. Nur die Mütter fuhren angewidert nach Hause und verboten ihren Kindern den Umgang mit Alexander. Die Väter hingegen blickten aus glasigen Augen neidisch auf meine zersausten Haare und meine kaputte Brille und träumten fortan jede Nacht davon, ihren Kindern auch einmal einen Kindergeburtstag machen zu dürfen.