www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Der Vermesser

Ein Schlosser, der gut Schlossern kann, sollte ein guter Schlosser sein. Oder nicht? Nun, da gibt es noch einen Schlosser, der kann auch gut schlossern, aber er kann eines nicht: er kann nicht messen. Er kann es einfach nicht. Das zu erklären oder zu verstehen fällt schwer. Aber er kann nicht messen. Er kann es halt nicht. Ob er trotzdem ein guter Schlosser ist?
Dieser Schlosser, der zwar schlossern kann, aber nicht messen, heißt Alois. Alois wollte eigentlich gar kein Schlosser werden, aber sein Vater, ein Schlosser, der gut schlossern und gut messen konnte, wollte, daß Alois sein Geschäft übernahm. Also machte Alois bei seinem Vater eine Schlosserausbildung, und es zeigte sich, daß er ein vorzüglicher Schlosser werden sollte, ein selbstbewußter dazu, denn er stammte ja schließlich aus einer Schlosserfamilie (seine Mutter war eine Schlossersfrau!), doch messen, das konnte er einfach nicht, aber das machte nichts, denn das übernahm sein Schlosser-Meister, der ja gleichzeitig sein Vater war, und der war ein nachsichtiger Vater und guter Messer und maß gerne.
Und so kam der Tag, an dem der alte Schlosser alt war und sich aufs Altenteil zurückzog und der junge Schlosser alleine schlossern mußte, was er gut konnte, und alleine messen mußte, was er nicht konnte.
An Aufträgen mangelte es dem jungen Schlosser nicht, denn die Firma seines Vaters war im Ort sehr angesehen, und daher gingen alle, die etwas zu schlossern hatten, zu „ihrer“ Schlosserfirma im Ort.
So dauerte es nicht lange, da sollte Alois, der junge Schlosser, ein Treppengeländer schlossern für ein Treppenhaus in der Mörikestraße. Er nahm seinen Meterstab und veranstaltete einen Vor-Ort-Termin. Er klappte das Ding aus, maß oben, maß unten, maß links, maß rechts, versuchte, den Stab gerade zu halten und auf der richtigen Seite abzulesen, schrieb ungeordnet Zahlen auf sein Papier, strich sie wieder aus, schrieb sie erneut, grübelte, rechnete, überlegte, maß sogar noch die Neigung der Treppe aus, maß nochmal nach, korrigierte erneut einige Zahlen, und als die Zahlen schließlich einfach genug waren und keine lästigen Kommazahlen mehr auftraten, trat der selbstbewußte Schlosser seine eigentliche Arbeit an und schlosserte ein Treppengeländer.
Es war ein glanzvolles seiner Art, lag geschmeidig in der Hand, hatte wundervolle Schwingungen und einen einzigartigen Glanz. Indes, man kann es sich schon denken, es paßte nicht.
Alois montierte es morgens in der früh und war froh, allein zu sein. Denn er mußte seine Arbeit manche Male leicht verändern, mal etwas weiter nach unten rücken, dann wieder nach oben, doch so hundertprozentig mochte es nicht gelingen. So wählte Alois die Lösung des größten Kompromiß.
Er ging wieder nach Hause, schrieb eine Rechnung, und als die Auftraggeber ihr neues Geländer betrachteten, fehlten unten und oben gut dreißig Zentimeter, die Treppe war zu Teilen um die Hälfte schmäler geworden, da die Kurven an der falschen Stelle verliefen, und in der Mitte hing das Geländer rund einen halben Meter in der Luft.
Da gab es aber Disput zwischen dem Schlosser und den Auftraggebern! Die polterten, beim alten Schlosser habe es das nicht gegeben, und Alois konterte geschickt, das sei eine Unverschämtheit und sie hätten offensichtlich eine neue Treppe eingebaut und seinen vollkommen selbst schuld und im übrigen hätte die Treppe eine unzulässige Steigung und Eisen passe auch nicht zu den Bildern an der Wand.
Ja, um Worte war der junge Schlosser nie verlegen. Und weil er der einzige Schlosser am Ort war, kamen die Leute weiterhin zu ihm, zwar mit verbissenem Gesicht, giftsprühenden Augen und wenig gesprächig, aber sie kamen. Und sie bezahlten viel Geld für ihre kunstvollen, modern anmutenden Gartentore, die nicht schlossen, Vorhangstangen, die Fenster verriegelten, Balkongeländer, die frei in der Luft schwebten, Eisentreppen, die ins Nichts führten, oder, des Schlossers Lieblingsschlosserei, elektronisch ausfahrbare Balkonmarkisen, die mangels Montierbarkeit in der Garage lagern und, eine weitere Tücke der Technik, immer dann ausfahren, wenn jemand den Anlasser seines Autos bedient.
So schlosserte sich der junge Schlosser schnell ein kleines Vermögen zusammen und konnte sich bald sein eigenes Häuschen leisten, zu dem er einiges in Eigenarbeit beisteuerte. Gottlob nicht den Bauplan (!), sondern nur die Installationen, die Türen, Fenster, Vorhangstangen, Geländer, Treppen und eine elektronisch ausfahrbare Balkonmarkise.
Jetzt – da er reich ist – sieht sein Tagesablauf so aus, daß er morgens aufwacht, sich unter der Markise hervorkämpft, die in seinem Schlafzimmer lagert und sich stets beim Weckerklingeln ausfährt, dann die Fensterläden aufmacht, die er später im Garten einsammelt, mit einem gut eingeübten Einmetersatz die Treppe nach unten erreicht, in den Keller zum Duschen geht, da der Wasserdruck durch einige kunstvolle Schnörkel in der Leitung nur im Untergeschoß ausreichend ist, dann die Vorhangstange im Wohnzimmer abnimmt, um das Fenster zum Lüften zu öffnen, gemütlich frühstückt, während er die Zeitung zusammensetzt, die nach dem Einwurf in den Briefkasten gewöhnlich leicht geschreddert wirkt, im Keller die Zähne putzt, sich fertigmacht, daraufhin durch den Spalt neben und an der Haustür vorbei das Haus verläßt, mit einem sportlichen Satz über das Vortreppen-Geländer, welches quer zur Treppe verläuft, das Gartentor erreicht, über welches er ebenfalls springt, da die Klinke am Boden streift und sich daher nicht öffnen läßt. Nach diesem durchaus geordneten Tagesbeginn fährt er im dicken Auto, an dem er einige Veränderungen plant (nur plant) in seine Firma und erteilt neuerdings seinem Schlosser-Angestellten Anweisungen, was er zu schlossern hat, denn das Messen, das behält er sich selbst vor, wie es sein Vater einst gemacht hat. So ist die Tradition.