www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum
Die schlichte Tristesse meiner zehn Wohnheimquadratmeter
verwandelten sich in der zweiten Hälfte meines Studiums in große,
helle, freundliche WG-Räumlichkeiten voller Wärme und Herzlichkeit.
Ich hätte im Wohnheim bleiben sollen.
Denn Wärme und Herzlichkeit, das hätte ich
Ahnen müssen, sind meistens nur Vorboten von Gemeinschaftsaufgaben
– nur nicht in dem Sinne: Alle gemeinsam! Sondern: Einer für alle!
Da die neue WG Bestandteil der Katholischen Hochschulgemeinde war (bis
auf mein Zimmer, welches seit dem Tag meines Einzugs einen erbitterten
Unabhängigkeitskrieg ausficht durch das Aufhängen evangelischer
Diakonie-Plakate und das In-Pose-Bringen von Dutzenden von Luther-Bibeln),
stehen Gemeinschaftsaufgaben hier besonders hoch im Kurs. Nicht, dass die
anderen WG-Genossen keine derartigen Aufgaben zu erledigen hatten. Nur
waren diese weniger unlösbar als meine. Ich aber sollte einen Kuchen
backen.
Einen Kuchen! Ich! Ich entsann mich meiner Bemühungen
als Hausmann in meinem damaligen Ein-Personen-Haushalt. Doch das hatte
nicht die gewünschte Wirkung. Im Gegenteil: Ich wurde mir nur zusätzlich
der völligen Unmöglichkeit des Vorhabens bewusst.
Dann war da noch ein Punkt: Um einen Kuchen essen zu
dürfen, suchen sich die Menschen gewöhnlich einen Anlass. Für
diesen Kuchen musste ein Mitarbeiter der Hochschulgemeinde seinen Hut nehmen.
Nein, nein, er wechselte völlig freiwillig die Stelle. Wahrscheinlich,
weil er besonders gerne Kuchen isst.
Mein persönliches Problem damit war, dass es dem
Anlass ein besonderes Gewicht gab. Und von Mutter her war mir bekannt,
dass alleine der Anlass „Es ist Sonntag nachmittag“ ausreichte, um für
den entsprechenden Kuchen einige Wochen in der Küche zuzubringen,
um am besten schon das Wachsen der Getreidekörner mit der nötigen
Sorgfalt überwachen und (wie auch immer) beeinflussen zu können.
Ich versuchte also den Aufwand hochzurechnen, der sich für mich aus
dem Anlass „Ein hochverdienter Mitarbeiter wird verabschiedet“ in Relation
zu „Es ist Sonntag nachmittag“ ergab. Der tatsächliche Aufwand lag
höher.
Das lag daran, dass ich nicht auf die Erfahrung zurückgreifen
konnte, die meine Mutter für ihre Kuchen besaß. Ich muss sogar
noch weitergehen. Das lag vor allem auch daran, dass ich meine eigenen
Bemühungen mit kreativen Ideen torpedierte.
Bis zum Hinstellen der Rührschüssel auf
den Tisch ging eigentlich alles gut.
Auch die ersten Inhaltsstoffe stellten mich noch nicht
vor unlösbare, hingegen durchaus vor zeitraubende Probleme. Doch es
gelang mir schließlich, das Mehl vom Teppich in die Schüssel
zu bekommen und umgekehrt die Eierschalen von der Schüssel auf den
Teppich. Dann las ich in Zeile drei meines sogenannten Rezeptes: „250 Gramm
Zucker.“
Ich ergriff die Tüte mit Zucker und suchte die Markierung
für 250 Gramm. Merkwürdigerweise schien diese ausgerechnet bei
dieser Tüte vergessen worden zu sein. Damit leitete sich ein Problem
ein, welches durch guten Willen allein nicht zu beheben war.
Ich kam zu dem Schluss, dass „Gramm“ etwas mit Gewicht
zu tun hatte, und hielt nach einer Waage Ausschau. In einer WG heißt
nicht, dass man sich einmal im Kreis dreht und sogleich das Objekt der
Begierde erspäht. Nein, bei uns heißt das, man macht sich einen
systematischen Plan über alle sich in der Wohnung befindlichen Schränke
und Regale und geht dann Fach für Fach durch, wobei man auch vergilbte
Fernsehzeitungen mit längst verstorbenen Persönlichkeiten auf
dem Titel nicht als Grund sehen darf, zum nächsten Fach überzugehen,
da sich unter jeder Art von unnützem antiquarischem Etwas plötzlich
ein ausgesprochen wichtiger Gegenstand auftun kann.
Zum Beispiel eine Waage.
Nun, eine geeignete fand ich nicht. Und die Waage im
Badezimmer erreichte nicht die erwünschte Genauigkeit.
Ich überlegte, ob ein Kuchen ohne Zucker dem Anlass
angemessen war. Ich kam zu einem negativen Ergebnis.
Doch die Rettung war zum Greifen nahe. Ich griff unter
eine andere vergilbte Fernsehzeitung und zog eine Packung Würfelzucker
hervor, die die verlockende Aufschrift „500 Gramm“ trug (verlockend deshalb,
weil sich durch Abzählen daraus leicht 250 Gramm ableiten ließen).
Damals fing ich an, an Fügung zu glauben.
Etwa drei Minuten später hörte ich wieder damit
auf. Das war der Moment, in dem ich erkannte, dass ein Rührgerät
zwar wundervoll dazu geeignet war, Zuckerstückchen im Kreis herumzuwirbeln,
aber weit davon entfernt war, diese in ihrer Grundstruktur auch nur anzukratzen.
Doch noch hielt ich das Problem für ein zu bewältigendes.
Der Versuch mit dem Hammer scheiterte jedoch am erstaunlich
hohen Ausweichvermögen der kleinen Dinger, und das Zerpulen mit den
Fingern gab ich auf, als ich die dafür in Anspruch zu nehmende Zeit
abschätzte.
Nun hatte die Situation plötzlich den Charakter
eines nicht mehr zu bewältigenden Problems.
Ich reagierte menschlich – und beschwor den gehirneigenen
Verdrängungsmechanismus, indem ich die teigähnliche Masse mit
merkwürdigen quaderförmigen Elementen darin auf den Kühlschrank
stellte und davon ausging, dass das Problem sich von ganz alleine löste,
was zeigt, dass der Verdrängungsmechanismus bereits griff.
Wir Menschen besitzen eine faszinierende Eigenschaft,
uns in solchen verzwickten Situation (und nicht nur in solchen) einfach
die falschen Fragen zu stellen, damit wir gleich gar nicht in die Versuchung
kommen, ein Problem einfach beiseite zu räumen.
Ich etwa fragte mich: Wird jemand etwas merken? Wie lange
braucht wohl der biologische Abbauprozess von Würfelzucker? Werde
ich rausgeschmissen, wenn ich sage, ich habe „vergessen“, einen Kuchen
zu machen? Sollte ich nicht viel lieber ein Computerspiel spielen, um mich
von den lästigen Fragen abzulenken?
Es gab allerdings eine Mitbewohnerin in der WG, die hatte
die vortreffliche Eigenschaft, die richtigen Fragen zu stellen, was im
Endeffekt dazu führte, dass geschah, was den meisten anderen Menschen
in dieser Situation nicht vergönnt ist: Das Problem löste sich
wie von selbst.
Die Frage lautete: „Warum hast Du nicht einfach einen
neuen Teig gemacht?“
Diese Frage war umgeben von etwas weniger bedeutenden
Fragen wie „Warum hast Du nicht den Messbecher genommen?“ oder „Du hast
wirklich Würfelzucker da rein getan?“, und dann zauberte die junge
Frau einen Kuchen hinter dem Rücken hervor, für den andere Jahre
gebraucht hätten (was ja auch dem Anlass gerecht geworden wäre),
ich zerfloss vor Scham, der Kuchen war himmlisch, der andere Ich-bin-ein-Schwabe-ich-muss-auch-den-Würfelzucker-Teig-irgendwie-doch-verwerten-Kuchen,
nun, eher für den internen Gebrauch, die Sonne ging blutrot am Horizont
unter, ich lebte noch, und alle hatten sich lieb.
Daher, Hausmänner dieser Erde! Fürchtet euch
nicht vor den Aufgaben, die sich aus der Gegenwart roher Lebensmittel ergeben!
Aber seht zu, dass ihr immer einen weiblichen Schutzengel in der Nähe
habt.