www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum
Ich wollte vom Rektor meines Internats eine Beurlaubung
für den letzten Schultag vor den Winterferien erhalten, weil ich gleich
am ersten Ferientag auf eine Schifreizeit mitfahren wollte, davor aber
noch nach Hause reisen, meine Schier einstellen lassen, einige Formalien
erledigen, meinen kranken Onkel besuchen, meinen Eltern ein wenig Aufmerksamkeit
schenken und meine Sachen packen mußte.
Beim ersten Mal sagte ich dem Rektor die Wahrheit und
bekam keine Beurlaubung.
Beim zweiten Mal sagte ich: „Mein Meerschweinchen ist
gestorben. Ich muß nach Hause zur Beerdigung.“ Ich wurde ausgelacht.
Beim dritten Mal log ich: „Sie wissen doch: mein kranker
Onkel... Ich muß ihn dringend besuchen, denn wenn er mich nicht bald
sehen kann, sagt er, dann stirbt er.“ Ich bekam keinen Urlaub.
Beim vierten Mal brachte ich eine Schachtel Pralinen
mit und sagte: „Ich glaube, ich bekomme Fieber. Ich sollte lieber heimfahren.“
Er glaubte mir nicht.
Beim fünften Mal drückte ich ihm eine Flasche
Wein in die Hand und schmeichelte: „Wenn Sie mich beurlauben, sage ich
allen meinen Freunden, daß sie der beste Rektor der Welt sind!“ Er
lehnte das Angebot aus pädagogischen Gründen ab.
Beim fünften Mal kam ich mit leeren Händen,
hatte aber starke Argumente: „Wenn ich gut vorbereitet auf die Freizeit
kann, gewinne ich vielleicht einen Preis bei einem Rennen. Den werde ich
der Schule widmen!“ Er traute mir das nicht zu.
Beim sechsten Mal brachte ich seiner Frau einen Blumenstrauß
mit und heulte: „Bevor ich auf die Freizeit gehe, muß ich unbedingt
nochmal meine Freundin sehen. Sie fliegt für ein halbes Jahr nach
Jamaica. Es liegt in Ihren Händen, ob wir beide in unserem Leben glücklich
werden oder nicht...“ Er verdrückte eine Träne des Lachens und
schickte mich fort.
Beim siebten Mal verhandelte ich: „Wenn ich fahren darf,
bringe ich alle 27 Teelöffel in die Küche zurück, die sich
in meinem Zimmer angesammelt haben.“ Die Löffel mußte ich zurückbringen,
den Urlaub bekam ich nicht.
Beim achten Mal konnte nichts mehr schiefgehen: „Wenn
sie mir meine Beurlaubung geben, verspreche ich Ihnen, Sie nicht mehr zu
belästigen.“ Er ließ sich nicht erpressen.
Beim neunten Mal sagte ich überhaupt nichts, sondern
setzte mich auf den Boden vor die Tür, neben mir lag ein Schild mit
der Aufschrift: „Hungerstreik. Ich esse erst wieder etwas, wenn ich den
Urlaub bekomme. Wenn ich sterbe, sind Sie schuld!“ Er steckte sich provozierend
ein Stück Schokolade in den Mund und ging spazieren.
Beim zehnten Mal – ich lief jetzt schon den ganzen Nachmittag
zwischen meinem Zimmer und der Wohnung des Rektors hin und her – brachte
ich keine Bestechungsgeschenke mit, sondern einen Molotow-Cocktail. Bevor
ich zu meiner durchdachten, geschickt formulierten und in sich schlüssigen
Argumentationskette ansetzen konnte, sprangen jedoch zwei Männer in
weißen Arbeitskleidern hinter der Tür hervor, entrissen mir
den Cocktail, drehten mir den Arm auf den Rücken und zerrten mich
in einen Wagen. Ich spürte noch einen Stich im Arm, dann bekam ich
nichts mehr mit.
Meine Wohngruppe „Fisch“, in der ich einige Leidensgenossen
kennengelernt habe, geht zwar nicht Schifahren, aber am Sonntag dürfen
wir mit unseren Helfern in den Zoo. Das ist auch ganz schön.