www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Die Launische und der Softie

Meine launische Liebste ist sehr lieb, jedoch mitunter etwas launisch. Aber wir lieben uns beide sehr. Auch wenn es nicht auffällt.
Meine launische Liebste hatte mir zum Geburtstag zwei handgeblasene Sektgläser geschenkt, und zwei treusorgende Freundinnen einen Champagner für uns beide dazu. Am folgenden Tag wollten wir die Gläser einweihen und luden die zwei Freundinnen Tanja und Margit dazu ein, da wir uns als alkoholtechnische Unschuldsengel außerstande sahen, die Flasche allein zu leeren. Ich freute mich auf einen sentimentalen Abend mit Kerzenlicht und viel Zuneigung.
Tanja ist noch nicht erschienen, die anderen drei sitzen am Tisch und verzehren Kuchenreste. Meine launische Liebste sagt: „Iß nicht mit der Tortenschaufel!“, „Stopf nicht so!“, „Friß nicht alles weg!“ oder „Verklecker dich nicht!“. Zur Unterstützung ihrer Sätze haut sie mir regelmäßig auf die Schenkel. Ich weiß, daß sie eigentlich sagen will: „Ich freue mich, bei dir zu sein. Der Kuchen ist gut. Es ist lustig, wenn du mit der Tortenschaufel ißt“, und will sie liebevoll verzeihend – und wie es sich für einen Softie gehört, der sich grundsätzlich nicht wehrt – in den Arm nehmen. Sie schält sich beleidigt unter meiner Umarmung hervor, verspricht aber, wieder lieb zu sein, sobald Tanja kommt.
Tanja kommt und meine launische Liebste ist nicht lieb. Wir sitzen auf dem Sofa und bereiten uns auf den aufregenden, bedeutenden Augenblick vor, an dem der edelste aller Sekte aus den wundervollsten aller Gläser über unsere verliebten Lippen fließen wird. Um das zum Ausdruck zu bringen, sitzt meine launische Liebste am äußersten Rand des Sofas und starrt provokant deutlich die Wand an. Als ausgebildeter Softie spiele ich dieses Spiel mit, sitze am anderen Rand des Sofas und sehe mich im Zimmer um. Die Szene wirkt so schön, daß Tanja nur die Assoziation „Wie bei Loriot“ einfällt. Um den Liebesentzug zu kompensieren, fange ich eine Affäre mit dem Teddybären an. Meine launische Liebste setzt sich aufs andere Sofa.
Ich Softie denke, daß es jetzt wieder Zeit zum Versöhnen wäre und setze mich zu ihr. Sie denkt dasselbe und sagt: „Mußt du mir den ganzen Platz wegnehmen?“
Ich öffne den Champagner, setze ein fröhlich verliebtes Lächeln auf und würde am liebsten heulen. Meine launische Liebste hat volles Verständnis für meine Empfindungen und beginnt, zur Wiedergutmachung mit ihren Freundinnen über „Raumschiff Enterprise“ zu hysterieren, der übelsten Fernsehserie seit Entdeckung der Studioaufnahme.
Fast hätte ich das Zimmer verlassen, doch schließlich werde ich doch noch ins Gespräch eingebunden: „Geh´ zum Friseur!“, rät mir meine launische Liebste.
Ja, ich werde zum Friseur gehen. Ich werde auch nicht mehr mit der Tortenschaufel essen und das Fernsehen wieder beginnen. Ich bin ein Softie.
Meine launische Liebste wäre allerdings nicht meine launische Liebste, wenn sie sich nicht ihrer Launigkeit bewußt wäre.
„Kann man daran sterben, wenn man eine launische Freundin hat?“, fragt sie. Ich nicke bestimmt und entnervt. Meine launische Liebste nimmt das zur Kenntnis und macht weiter wie zuvor.
Bevor ich vollends mit den Nerven und überhaupt mit allem am Boden bin, ist der gemütliche Abend glücklicherweise zu Ende. Meine launische Liebste verabschiedet sich mit einem leidenschaftlichen, langen und liebevollen Kuß.
Selig lege ich mich ins Bett und bin mit der Welt im reinen. Ach, ich liebe meine launische Liebste. Wir beide lieben uns sehr. Auch wenn es nicht auffällt.