www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Die Entsorgersorge

Am Anfang war ein Karton. Ein Übrigbleibsel eines sinnlosen Computerkaufs - aber das ist eine andere Geschichte. Früher bei Muttern hätte ich den Karton auf den Speicher gepackt, aber an Speichern mangelt es Studierzimmern gemeinhin. Also tat der Karton das, was er am besten kann: Er versperrte den Weg.
Das kann ja nicht wirklich schwer sein, den weg zu tun, dachte ich mir, aber schon zu diesem Zeitpunkt plagte mich eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Frage, was den nun wirklich das Beste sein sollte, und eben diese Unsicherheit sollte den Pepp dieser Geschichte ausmachen.
Es war ein Sonntag, an dem ich nach langem hin und her der Unsicherheit ein Ende machte, mich selbst geschickt austrickste, indem ich die Karton-Entsorgung als Spaziergang tarnte und das Ding endlich, wenn auch unsicher,  zum Container brachte.
Der darauf befindliche Aufkleber gab meiner Unsicherheit weiteren Auftrieb: „Nur werktags einwerfen. Danke.“
Der Dank konnte nicht mir gelten. Denn obgleich ich ein Mensch bin, der jede Vorschrift lieber doppelt als einfach einhält, wollte ich den Karton nicht wieder nach Hause tragen, weil sonst womöglich die Tarnung als Spaziergang aufgeflogen wäre. Wo ich also schon hier bin, dachte ich verharmlosend, störte die Anwohner beim Zerreißen des Kartons, störte die Anwohner durch das Quitschen der Containerklappe, störte die Anwohner durch meinen Schrei, als ich mir beide Hände in selbiger einklemmte und störte die Anwohner durch einen erneuten Schrei, als ich Blut an meinen Händen entdeckte. Kein Grund zu größerer Unruhe - es waren doch nur Pizzareste eines mir unbekannten Pizaaessers.
Zufrieden setzte ich meinen Spaziergang fort, bis mich eine Hand an der Schulter packte.
„Das war Karton!“
Ich hatte gedacht, der Kerl würde sagen: „Das war sonntags!“, aber nein, er sagte: „Das war Karton!“
Und weiter sagte er: „Hier ist nur Papier und Pappe.“
„Oh, ja...“, stammelte ich, bekam sogleich ein ganz, ganz schlechtes Ökogewissen, sah schon eine überforderte Papier-Recycling-Maschine vor mir und den Bußgeldbescheid wegen unzulässigem Kartoneinwurf über eine Summe, die dem Anschaffungspreis einer Papier-Recycling-Anlage entspricht.
„Jetzt wissen Sie es ja,“ sagte die personifizierte Öko-Zivilcourage milde, und in der Tat traten meine panikartigen Vorstellungen nicht ein. Doch die Szene schärfte mein Bewusstsein.
Die Folge davon war, dass ich überhaupt nichts mehr wegwarf. Wollte ich Styropor entsorgen, sagte der eine: Gelber Sack!“ und der nächste warf sich mir in den Weg und schrie: „Bloß nicht! Bist Du wahnsinnig!“
Wollte ich einen Bananenschale wegwerfen, sagte der andere: „Grüne Tonne“, und der eine schlug sie mir dann aus der Hand und brüllte: „Willst Du uns alle vergiften?“
Es ist schwer, sich richtig zu verhalten. Und schwerer noch, sich richtig verhalten zu wollen.
Also änderte ich den Schwerpunkt meines Studiums und las schlaue Bücher. Die Lage indes wurde nur noch schlimmer. Denn nun war ich es, der die anderen grob packte, wenn sie einen harmlosen, dazu noch gespülten Joghurtbecher im gelben Sack verschwinden lassen wollten.
„Tu’s nicht!“, kreischte ich, „Joghurtbecherplastik verträgt sich nicht mit Zahnpastatubenplastik! Das kann schlimme Folgen haben!“
„Und was soll ich stattdessen tun?“
Ich zuckte verzagt mit den Schultern.
Die Bücher, die ich las, wurden immer schlauer, widersprachen sich immer häufiger und deprimierten mich zusehens mehr. Die Antwort auf den Sinn des Lebens zu finden schien mir einfacher.
Währenddessen stapelte sich der Müll der gesamten Wohngemeinschaft in meinem Zimmer, fürsorglich gereinigt und haargenau sortiert, da ich ja gelernt hatte, dass die kleinste Verwechslung praktisch das Ende der Menschheit bedeuten konnte.
Als mein Zimmer allein nicht mehr als Lagerraum ausreichte und es zu gewissen Belästigungen führte, dass ich meinen Lebensmittelpunkt ins Wohnzimmer verlagerte, forderte mich der Wohngemeinschaftsrat auf, das Problem zu lösen.
In meiner Verzweiflung begann ich, meinen ganzen Müll nicht mehr als Müll zu betrachten. Ich ging zu einem Joghurthersteller und verkaufte ihm genau die Becher, die er zuvor über den Umweg Supermarkt mir verkauft hatte. Ich ging zum Computerhersteller und trug ihm genau jene Kartons zu, die er zuvor immer teuer vom Kartonhersteller bezog. Es war ein famoses Geschäft, ich wurde reich und berühmt und bekam den Umweltengel verliehen.
Ich weitete mein Geschäft international aus und ging zum Bananenhersteller, damit der seine Bananen in meine Schalen...
Nein, mist, jetzt habe ich mich verraten.
Wenn’s nur so einfach wäre.
In Wahrheit aber habe ich noch immer keine Antwort.

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