www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Freund fürs Leben

Es gibt Leute, bei denen tut der Abschied weh, wenn sich einmal die Wege trennen. Bei anderen ist der Abschied zu ertragen, manchmal sogar eine Erlösung. Eine dritte Gruppe von Menschen ist allerdings die Schlimmste: sie bekommt man nicht mehr los.
Er hieß Hanno und war an und für sich ein lieber Kerl. Aber er war seit jeher etwas einsam und daher äußerst kontaktfreudig gewesen. So kontaktfreudig, daß er seinen Mitmenschen etwa nach drei Tagen auf die Nerven fiel, sie am sechsten Tag beleidigte, am neunten Tag verletzte und nach zwölf Tagen beschloß, den Freund fürs Leben in dir gefunden zu haben.
Ich lernte Hanno auf der Schule kennen, als wir beide in der zehnten Klasse waren. Wir spielten ein wenig Schach und redeten miteinander. Es war ganz nett, aber nicht umwerfend. Doch nachdem er in der Folgezeit mich und alle anderen ärgerte und nervte, fiel der Abschied nach drei Jahren nicht schwer.
‘Von nun an muß ich ihn nie wieder sehen. Von daher waren die drei Jahre im Rückblick schon auszuhalten,’ dachte ich. Zwei Tage später besuchte ich einen Freund in einem Kaff namens Truberdingen, das kein Mensch kennt, der nicht aus Truberdingen stammt. Gerade will ich nach einem äußerst netten Nachmittag wieder ins Auto steigen, um nach Hause zu fahren, da greift mich packend ein Arm um die Schulter, und eine mir von irgendwoher bekannte, etwas rauchige Stimme jubelt: „Na, wie geht’s? Was führt dich denn hier her?“, und beginnt, zwei Stunden lang von seiner Zivistelle in Truberdingen und von seinem Chef und vom lockeren, aber einsamen Leben zu erzählen und meine Schokolade wegzuessen.
Erlöst trete ich die Flucht nach Hause an und beschließe, meinen Freund für ein Jahr im Stich zu lassen. Abends ruft ein anderer, und zwar mein bester Freund mich an und hat eine umwerfende Neuigkeit: er habe eine Zivistelle in einem Kaff namens Truberdingen gefunden. Alles sei ganz dufte. Nur die Dachwohnung müsse er mit einem Mitzivi namens Hanno teilen. Ich finde ein paar beglückwünschende Worte für meinen überglücklichen besten Freund und falle innerlich in Ohnmacht.
Daß die gemütlichen Abende in der Truberdinger Ziviunterkunft schrecklich werden würden, wenn ich auf Besuch kam, hatte ich ja geahnt. Aber ich konnte meinem besten Freund, der sich seltsamerweise sehr gut mit Hanno verstand, die Einladungen ja nicht alle ausschlagen.
‘Von nun an muß ich ihn nie wieder sehen. Von daher waren die vier Jahre im Rückblick schon auszuhalten,’ dachte ich. Nun war es endlich vorbei.
Für eine Woche.
Ich stand in Kaiserslautern in der Mensa – es war mein erster Studientag. Schüchtern schaute ich mich um, wer so alles bei mir am Tisch saß. Dann sprang ich auf, ließ mein Essen stehen und lief davon, durch die ganze Masse von Studierenden, und hoffte, daß Hanno mich nicht gesehen hatte. Zu spät. An der Bushaltestelle hatte er mich.
„Hey, unglaublich! Toll, dich hier zu sehen! Wie geht’s dir? Sag bloß, du studierst auch Raumplanung!“
Nicht mehr lange. Ich sattelte um auf Soziologie und traf Hanno in Tübingen. Ich versuchte mein Glück in Oxford und bezog das Bett neben Hanno. Ich ging ein Jahr nach Amerika und teilte meine Gastfamilie mit Hanno. Wo immer ich hinkam, Hanno war schon da. Aber nirgendwo hinzugehen ging auch nicht. Denn da war Hanno auch.
Je aussichtsloser die Lage war, desto mehr haßte ich ihn. Nicht, daß er so unausstehlich gewesen wäre – nur ziemlich –, aber ich wollte schlichtweg nicht einsehen, daß ich nicht selbst über mein Leben und meine Freundschaften entscheiden durfte.
Mit 38 Jahren ging ich in die Offensive. Nach zwei Herzattaken und vier gescheiterten Beziehungen – Hanno war vier Mal zur falschen zeit am falschen Ort gewesen – beschloß ich, alles oder nichts zu spielen. Ich arbeitete zu der Zeit in einem Planungsbüro am Schreibtisch gegenüber von Hanno. Eines Abends lud ich ihn zu einem Bier ein und eröffnete das Gespräch.
„Hanno,“ sagte ich, „wir leben nun schon sehr lange sehr nahe beieinander. Du bist schon immer ein prima Kumpel gewesen. Ich habe gemerkt, daß ich mich nur in deiner Gegenwart so richtig gut und sicher fühle. Ich wünsche mir, daß das immer so bleibt. Mit anderen Worten: Ich habe mich in dich verliebt!“
Am nächsten Tag war Hanno spurlos verschwunden. Mein Leben begann.