www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Freundliche Bahn

Was so ein kleines bisschen Freundlichkeit ändern kann! Jetzt habe ich ein Mal einen freundlichen Menschen bei der Eisenbahn getroffen, und schon hatte ich – auch zum ersten Mal – so richtig Spaß am Fahren. Man möchte am liebsten gar nicht mehr aussteigen! Nun, nicht dass man die Wahl hätte.
Den freundlichen Menschen, den ich getroffen hatte – das war in Essen Hauptbahnhof. Er arbeitete da als Kartenverkäufer. Es war am frühen Morgen. Es war keine Schlange zu sehen. Und ich wurde mit so vielen guten Wünschen überhäuft, dass ich gar nicht mehr nachkam mit dem Bedanken.
„Eine gute Reise, Herr –“, kurzer Blick auf die EC-Karte, „Herr Reuß!“
„Danke.“
„Und schönes Wetter da unten!“
„Danke.“
„So, ihre Karte. Nochmals gute Fahrt!“ –
„Hoffentlich bekommen Sie einen guten Platz!“ –
„Also, dann angenehme Reise.“ –
„Und wenn Sie mal die Zugtoilette benutzen wollen, Herr Reuß...“
„Ja?“
„Viel Erfolg.“
So trat ich frohen Mutes meine Reise an, in dem beruhigenden Gefühl, dass es tatsächlich einen Menschen gab, der in seinen Gedanken bei mir war, der sogar meinen Namen kannte und meine EC-Karten-Nummer. Das tat gut. Erst später verstand ich, dass ich die vielen guten Wünsche bitterlich gebrauchen konnte.
Der Zug fuhr voll besetzt mit Besuchern des Münchner Oktoberfestes in den Regen. Ich hatte einen schlechten Platz, aber was sollte man machen, immerhin spürte ich ja das Engagement der Eisenbahn, mir einen zu besorgen. Na ja, sagen wir, immerhin hat ein Kartenverkäufer der Eisenbahn mir einen gewünscht.
Noch vor Düsseldorf-Flughafen blieb der Zug stehen. Die Oktoberfest-Besatzung begann das Lästern. Alle, die einen Flieger bekommen wollen, taten dies mit mehr Nachdruck und rannten schimpfend durch den Zug.
Die Durchsage kam: Eine Signalstörung.
In diesem Punkt geben sich Bahn und Autofahrer nicht viel. Stehen Autofahrer an der roten Ampel, sagen sie auch: „Die Ampelschaltung muss kaputt sein!“
Also standen wir. Witze und Beschwerden flogen durch die Gänge. Und ich dachte mir: Tja, es kann ja mal was schief gehen. Immerhin geben sie sich Mühe.
Der Zug stand weiterhin, die Witze wurden seltener und die Beschwerden häufiger – und ich grinste.
Geht euch doch alle ein Auto kaufen, dachte ich mir, kauft euch doch eines, wenn ihr das Benzin zahlen könnt! Niemand zwingt euch, Bahn zu fahren. Außerdem, dachte ich, war heute jemand freundlich zu mir in der Servicewüste Deutschland. Deshalb bin ich heute für euch, ihr Bahnler. Und jetzt fahrt weiter.
Als ob sie es gehört hätten, kam die Durchsage: „Meine Damen und Herren. Wir fahren heute nicht über Düsseldorf-Flughafen. Reisende Richtung Flughafen sollen in Düsseldorf Hauptbahnhof aussteigen und ein Taxi nehmen.“ Nein, eben dies sagte er nicht! Sondern er sagte: „Am Taxistand ist alles für Sie vorbereitet.“ Der Unterschied zwischen Wüste und Service ist gar nicht so groß. Ich mochte die Bahn.
Der Zug fuhr an, fuhr weiter, durchs Fenster sah alles aus wie ein Flughafen, der Zug hielt an, kommentarlos wie selten, ich blickte aus dem Fenster, und was stand da? Düsseldorf-Flughafen.
Etwas Hektik bricht aus, Reisende Richtung Düsseldof-Flughafen hechten durch den Zug, der Ansager spricht etwas von einem „unplanmäßigen Halt“ und davon, dass die „erste Klasse bitte zwei Wagen weiter vorne aussteigen“ soll, und ich habe meine helle Freude.
Wenig später höre ich den Zugchef in sein Handy reden: „Hallo Leitstelle. Wir haben jetzt doch am Flughafen gehalten. Nein, auf dem S-Bahn-Gleis. Ja, das mit den Taxis hat sich erledigt.“
So stelle ich mir das vor, dass sich ein Zugchef für seinen Zug einsetzt. Ein wohliges Gefühl schlich sich in meinen Magen. Ich fühlte mich als Teil eines verschworenen Teams. So stelle ich mir ein freundliches, Service orientiertes Dienstleistungs-Deutschland vor!
Und jetzt ging’s erst richtig los.
In Köln wurde durchgesagt: „Bitte steigen sie schnell ein. Dann können wir noch vor dem Zug am anderen Bahnsteig den Bahnhof verlassen!“
In Bonn hieß es: „Wir halten heute nicht in Bonn. Dadurch können wir den EC 12, der dort eben hält, unplanmäßig überholen. Reisende Richtung Bonn können ab Frankfurt-Flughafen den Luftweg nehmen. Es ist dort alles vorbereitet.“
Und weil es  so gut lief, nahmen wir zwischen Mannheim und Stuttgart noch eine kleine Abkürzung („Wir fahren heute leider nicht über Heidelberg.“) und wendeten den Zug kurz vor Ulm, „damit wir auf der Rückfahrt wieder pünktlich sind“, ignorierten im Ballungsraum ab Köln dann jede rote Ampel, pardon, Signalstörung, warfen im Schlussspurt als Krönung noch einen neuen ICE aus der Bahn, so dass ich Zeuge werden konnte, wie der Zug, mein (!) Zug, gegen Abend das Kunsstück fertigbrachte, als erster Zug überhaupt pünktlich seinen Zielbahnhof zu erreichen.
Einige Hundert Oktoberfestbesucher stimmten ein Jubelfest an. Das Lied „Wir sind pünktlich, wir sind pünktlich“ hallte durch Münster, das Freibier floss in Strömen, und niemand sehnte sich nach München oder Blaubeuren. Nein, wir wollten nur noch unser ganzes Leben lang Zug fahren. Hier war man noch freundlich zueinander. Hier setzte man sich noch füreinander ein. Hier waren wir zu Hause.