www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Frisur und gute Unterhaltung

Ich gehe immer nur dann zum Friseur, wenn ich die Spaghetti auf dem Teller nicht mehr von meinen Haaren unterscheiden kann. Und wenn man schon nur zweimal im Leben zum Friseur geht, soll man wenigstens etwas davon haben... –
Heute ist es mal wieder so weit, nachdem mich ein Mitstudent heute morgen diskret darauf hingewiesen hatte, daß es auch in Dortmund Friseure gebe.
Klar gibt es die, und die meisten sind höllisch teuer, daher muß ich mich in die finsterste Ecke der Stadt begeben, um nach dem Haarschnitt noch etwas Geld in der Tasche zu haben. Langhaarige sind in den finstersten Stadtecken selten willkommen, daher kann ich mich nur mit Mühe unter dem Baseballschlägergeprassel in das kleine Friseurgeschäft retten und meinen 17 Uhr-Termin antreten.
Ich bin der einzige Kunde, die Chefin verabschiedet sich bereits, und die Angestellte fragt höflich: „Und wie soll es heute werden?“, gut überspielend, daß ich ihrer Ansicht nach gewiß noch nie einen Friseursalon von innen gesehen haben konnte. Ich deute auf die Höhe meines Ohres und sag: „So lang etwa.“
Das „etwa“ hätte ich besser weggelassen.
Madame fängt an zu kämmen, zu haarspangen und zu schneiden, und ich betrachte mich im Spiegel, überlege, ob ich was reden sollte, denke, daß ich vielleicht zu verkrampft bin, so das erste Mal seit Jahrzehnten beim Friseur, stelle mit Erschrecken fest, daß meine Augen unsymmetrisch sitzen, ferner mein Blick in der lethargischen Stimmung des Frisiertwerdens dem eines treudoofen Hundes ungewöhnlich ähnelt, denke also dies und das, das und dies, während meine Haare zusehends kürzer werden (was den Hundeblick nicht beheben kann) und – doch, endlich sagt Madame etwas, um die Lage etwas zu entkrampfen.
„Entschuldigung, das Telefon.“
Sie geht ans Telefon, redet mit einer Kundin, kommt zurück und ist wie verwandelt.
Sie plappert wie eine Berlinerin. Wie eine alleinstehende Berlinerin. Wie eine alleinstehende Berlinerin mit spanischem Blut.
Der Grund ihrer plötzlichen Lebendigkeit: Eine Kundin, die sich nach mir angemeldet hat, wird sich verspäten. Und wenn es um den Feierabend geht, dann hört bekanntlich die Kunden-König-Freundlichkeit auf.
„Also, was soll ich da machen?“
Achselzucken meinerseits.
„Ich kann doch nicht sagen: Dann können Sie halt nicht mehr kommen.“
Kopfschütteln, zaghaft, Madame muß ja schneiden können.
„Irgendwo hört die Kundenfreundlichkeit auf.“
Ich nicke.
„Ich meine, jeder hat doch seinen Feierabend verdient.“
Ich nicke deutlicher.
„Nicht wahr?“
Ich nicke heftigst.
Und dann wieder von vorn.
„Nicht? Was soll man da denn machen bitteschön?“
Achselzucken.
Und während Madame sich wieder und wieder über ihre Kundin ärgert, schneidet sie meine Mähne Runde für Runde und Millimeter für Millimeter kürzer, und wird dabei zunehmend behäbiger und langsamer, sorgfältiger und behutsamer. Und redseliger.
„Was soll man denn?“ – „Muß man denn alles?“ – „Gibt es denn keine Grenzen?“
Kopfschütteln. Nicken. Nicken. Achselzucken.
Und Madame schneidet, rasiert, schert.
Weil die Kundin, die kommt nicht.
Die Ohren stehen schon frei und ab, ich komme aber nicht zum Eingreifen, außerdem ist es ja auch schön, von Frauenhand gehegt und gepflegt zu werden, und alles, was ich zu tun habe, ist Achselzucken und Nicken.
18 Uhr. Keine Kundin. Noch vier Zentimeter.
„Sehen Sie. Ich werde heute überhaupt keinen Feierabend mehr bekommen!“
Nicken.
18 Uhr 30. Noch 0,5 Zentimeter. Endlich geht die Tür. Eine Wolke Parfum kommt herein, einige Minuten später eine Kundin, zwei Meter langes Haar. Ich bemitleide Madame zutiefst, aber nicht lange, denn die Redseligkeit hat sich schlagartig gelegt, in Sekundenschnelle bin ich fertig gemacht, gereinigt, gespiegelt und an die Kasse geschleift.
Hier wird plötzlich nach Zeit abgerechnet, mit der abgeschnittenen Haarlänge multipliziert, so daß ich für meinen Trockenschnitt etwa die Kategorie Damen-Waschen-Tönen-Dauerwelle-Stylen-Einkleiden bezahle, danach kein Geld mehr in der Tasche habe, die Skins gefahrlos passiere, aber vom Hausmeister aus meinem Wohnheim gejagt werde, mit der Begründung, ich könne kein Student sein.

(Wenn es das nächste Mal Spaghetti gibt, esse ich meine Haare einfach mit!)