www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum
Studenten, genauer Studentinnen und Studenten, müssen
mitunter sehr akribisch vorgehen, um die Anforderungen, die an sie gerichtet
werden, zu erfüllen. Ich habe das zu meinem Lebensmotto gemacht.
Heute habe ich um 10:15 Uhr eine Vorlesung. Das heißt,
ich werde um 9:57 Uhr im Hörsaal sein, um den Platz vorne rechts noch
ergattern zu können. Da ich vorher noch Frühstücken werde,
nehme ich einen früheren Bus, und zwar um 6:31 Uhr, nachdem ich um
6:28 Uhr an der Bushaltestelle war.
Der Bus ist heute zu spät. Er kommt erst um 6:38
Uhr an der Universität an, anstatt um 6:35 Uhr. Zum Glück habe
ich das eingerechnet. Jetzt darf ich allerdings nicht mehr trödeln.
Ich gehe die Treppen nach oben zum Mensa-Gebäude.
Vor dem Zeitungsautomat halte ich an. Ich kontrolliere die abgezählte
Münze in der Jackentasche – ein Einemark-stück –, nehme ein sauberes
Taschentuch in die eine und die Münze in die andere Hand, und werfe
dann die Münze in den Schlitz, während ich mit dem Taschentuch
die Klappe ergreife und öffne und die oberste Zeitung entnehme.
Alles klappt wie am Schnürchen. Pünktlich um
6:41 Uhr stelle ich mich an die Tür zur Cafeteria. Damit habe ich
für die erste Seite, den Wirtschaftsteil und den Sportteil je sechs
Minuten, da sie meist schon um 6:59 Uhr die Türe öffnen. Den
Rest lese ich zu Hause.
Um 6:59 Uhr betrete ich als erster die Cafeteria und
gehe direkt auf Tisch Nummer 22 zu, da der am wenigsten wackelt und der
Stuhl am stabilsten ist. Ich stelle meinen Koffer auf den Stuhl und verstaue
die Zeitung. Dann nehme ich ein frisches Taschentuch und säubere den
Tisch. Das sollte man grundsätzlich tun in fremden Gebäuden,
sonst holt man sich sehr leicht Bazillen und Viren in den Stoffkreislauf.
Um 7:05 Uhr traue ich der Sauberkeit des Tisches. Ich
nehme den Koffer vom Stuhl und öffne ihn. Den Stuhl brauche ich nicht
zu säubern, da ich ein Sitzkissen für Sitzfläche und Lehne
dabeihabe. Ich placiere es sorgfältig. Es ist für die Sauberkeit.
Das zweite, das ich darüberlege und am Stuhl festschnüre – zweimal
rum und dann einen Knoten – ist für eine bessere Sitzposition. Wenn
man schon viel sitzt, dann wenigstens richtig. Um 7:11 paßt alles.
Unvorhergesehen ist, das an meinem Tisch ein zweiter
Stuhl steht. Das bringt mich in Zeitverzug. Daß ich ihn an einen
anderen Tisch stellen muß, kostet mich gut uns gerne 20 Sekunden,
und außerdem nehme ich diesmal drei Mal Seife statt zweimal beim
Händewaschen, da ich den ungewohnten Stuhl angefaßt hatte. Daher
kann ich heute vor dem Milchregal nur vier Minuten überlegen statt
fünf Minuten, ehe ich zur Bananenmilch greife. Ich habe mich dazu
schon am Vorabend entschieden, aber ich will eben nicht auffallen.
Mein Baguette suche ich mir sorgfältig aus. Dazu
nehme ich mir viel Zeit, um das, mit dem idealen Belag und der saubersten
Erscheinung in voller Frische zwischen Küche und Theke abzufangen.
Um 8:23 Uhr bezahle ich mein Tablett mit einem Baguette,
einer Bananenmilch, einem Messer, einer Gabel und einem Einmal-Trinkhalm.
Servietten benutze ich eigene.
Das Frühstück kostet genau vier Mark (Das ist
der eigentliche Grund, warum ich immer Bananenmilch wähle). Ich bitte
die Dame an der Kasse, mir auf mein Fünfmarkstück ein Einemarkstücke
herauszugeben, damit ich morgen das Geld für die Zeitung habe.
Ich stelle das Tablett auf meinen Tisch und säubere
die Platte erneut, da ich sehr lange weg war. Das Sitzkissen reinige ich
mit meinem mitgeführten Handstaubsauger. Um 8:29 Uhr gehe ich ein
zweites Mal zur Toilette, um mir die Hände zu waschen. Vielleicht
sollte ich mir doch noch Handschuhe kaufen. Dann könnte ich in der
gewonnen Zeit die Lokalseiten der Zeitung lesen.
Um 8:35 Uhr sitze ich wieder vor meinem Baguette und
untersuche, ob sich inzwischen Staub auf ihm abgesetzt hat. Ich entdecke
nur ein Körnchen, was meinem Zeitplan sehr entgegenkommt, denn ich
hatte vorsichtshalber vier Körnchen eingeplant. Das eine Stück
kann ich bequem herausschneiden. Um 9:03 Uhr liegt das Baguette eßfertig
vor mir. Um 9:13 habe ich den Verschluß der Bananenmilch sorgfältig
entfernt und sofort ein Butterpapier über die Öffnung gelegt.
Es ist ein schöner, streßfreier Morgen. Ohne
jeden Zeitdruck nehme ich die Gabel (nachdem ich kurz einen Mundspray benutzt
hatte), hauche sie an und reinige sie mit einem frischen Taschentuch. Dann
nehme ich das Messer, hauche es an und reinige es mit einem frischen Taschentuch.
Dann nehme ich den Einmal-Trinkhalm, hauche ihn an und reinige ihn mit
einem frischen Taschentuch.
Ich schneide ein Stück des Baguettes ab, betrachte
es noch einmal sorgfältig, will es gerade in meinen Mund schieben
– da höre ich im Raum ein lautes Nießen. Oh nein! Schnell lasse
ich das Baguette fallen, nehme mein Tablett, stelle es in die Geschirrückgabe,
packe meine Sitzkissen ein (die ich waschen werden muß) und verlasse
die Cafeteria auf dem schnellsten Weg.
Ich werde innerlich so unruhig, daß mir der Schweiß
aus den Poren rinnt. Denn ich muß schnellstens eine Entscheidung
treffen, die mich überfordert: besuche ich die wichtige Vorlesung,
oder – was vernünftiger wäre – fahre ich nach Hause, werfe meine
Kleider in den Müllsack und nehme ein heißes Bad?