www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Fußball im Wohnzimmer

Wer in Duisburg war, denkt eigentlich, es geht nicht schlimmer. Also jetzt nicht von der Stadt her, da sowieso, sondern es geht nicht leerer, sozusagen, bei Fußballspielen. Ist nicht war? Doch, doch, schau einfach ein paar Folgen weiter vorne!
Also, wir wollten diesmal nicht Not gegen Elend angucken wie damals, sondern zur Abwechslung Elend gegen Not, und kalt war es mindestens ebenso und Abend und dunkel war es auch, so gesehen gibt das ungefähr die selbe Geschichte wie in Folge 5. Also wer es nicht nochmal hören will, einfach bei Folge 11b weiterlesen!
Ich hatte den Stadionbesuch (falls aus der Einleitung nicht ersichtlich: darum geht es) akribisch geplant. Mitfan Andi wollte ich am Dortmunder Hauptbahnhof auf der S-Bahn-Treppe treffen, was an tumultähnlichen Zuständen auf derselben wegen einsetzender Glühweinmarktstimmung mit Über-den-größten-Weihnachtsbaum-der-Welt-der-aussieht-wie-ne-verbogene-Rakete-Lästern gescheitert wäre, hätte nicht Mitfan Andis Zug einen Aussetzer wegen Gleisschadens gehabt, was ihn nach Odyssee über nicht-fahrende Ersatzbusse und ungläubige ICE-Schaffner leicht zu spät kommen lies.
Nicht sehr schlimm, da es uns noch auf einen Regionalexpress langte, der uns in Düsseldorf noch fünf Minuten zum Umsteigen versprach, was noch vor wenigen Monaten als ausreichend hätte angesehen werden können.
Aber – und auch wenn es nicht eigentlich Thema dieser Geschichte ist, so muß ich es einfach dem Zusammenhang halber aufgreifen, auch wenn man meinen könnte, ich wolle einfach nur immer wieder der Bahn am Kittel flicken – der Zug verbummelte bis Düsseldorf zehn Minuten, so daß wir Mitfan Zumsel verpaßten, womit dann auch Kartenübergabe und Treffen Nummer drei geplatzt war, da in Neuss Mitfan Gilli zusteigen wollte.
In dieser allgemeinen Dramatik ließ Mitfan Zumsel seinen Rucksack im Zug liegen, was in Wahrheit erst auf der Rückfahrt der Fall war, aber der literarischen Freiheit unterliegt und hier spannender wirkt.
Diese unendlich lange Einleitung sollte also schlichtweg darauf hinführen, daß Mitfan Andi und ich erst vier Minuten nach Spielbeginn mit einer endlos langsamen, aber immerhin pünktlichen (ich wiederhole: pünktlichen) S-Bahn in Elend einfuhren, als der Noter SC bereits 1:0 gegen Borussia Elend führte.
Mitfan Gilli und Mitfan Zumsel (auch das entspricht nicht der Wahrheit, aber wenn ich es genau erkläre, wird es einfach zu kompliziert) erwarteten uns am Bahnsteig mit echter freundschaftlicher Verbundenheit und Prügel (wieder gelogen).
„Gar kein Problem!“, sagte Mitfan Gilli, „da drüben sieht man schon die Flutlichter des Stadions. Mit Laufen sind wir in zwei Minuten dort!“ (im übrigen eine weitere literarische Vereinfachung; er mochte wohl etwa gesagt haben: „guggadosieschosfluutlichtwemmorennadsemmo-gleido!“)
Also liefen wir los. So ganz genau wußten wir allerdings nicht, ob besser links oder rechts um die Blocks, so daß wir das ein oder andere mal in eine Sackgasse liefen und die selbe Gruppe an ebenfalls verspäteten Fans fünf oder sechs Mal überholten. Dann leuchteten uns die Scheinwerfer der Arena schon grell entgegen, nur noch eine Häuserzeile trennte uns vom Fußballabenteuer. Und wieder die Frage: links rum oder rechts rum?
Links rum. Weitergerannt. Den Berg nach oben. Nächste Möglichkeit rechts. Das Flutlicht immer schön rechts von uns. Wieder nächste rechts. 30000faches Stöhnen von ferne. Wieder rechts. Weiterrennen. Bergab. Und wir stehen an der gleichen Stelle wie zuvor.
Schwer schnaufendes Staunen. Eingang verpaßt? Nochmal rennen. Bergauf. Rechts. Elend gleicht aus zum 1:1. Rechts. Bergab. Selbes Spiel. Selbe Stelle. Drama. Weltuntergang.
Wir rennen in die andere Richtung, unter Winterjacke, langer Unterhose, doppeltem Sockenpaar quilt der Schweiß, langsam meldet sich der erste Drehwurm, ein Eingang hingegen meldet sich nicht, und die Masse, der man hinterherlaufen hätte können, wenn nicht – hab ich ja ausgeführt – auf jeden Fall war das irgendwie verfahren, äh, verlaufen.
In unserer Verzweiflung schellten wir bei der nächstbesten Tür und verstanden nicht recht, warum da „Müller / Block 33“ auf dem Klingelschild stand.
Kurzes Warten. Dann machte eine herzensgute alte Frau auf und lächelte: „Wohl etwas spät heute? Kommen Sie!“
Sie führte uns hinauf in den dritten Stock, geleitete uns durch das Zimmer ihres Sohnes, nahm eine Stange, öffnete damit eine Falltür zum Dachboden, zeigte hinauf, wünschte ein gutes Spiel und verschwand. Wir stiegen hinauf, öffneten die Dachluke, kletterten hinaus und standen inmitten der legendären Arena von Borussia Elend, das an diesem Abend 3:1 gegen Not gewann. Tja, hatten wir wohl das einzige Tor unseres Noter SC verpaßt. Nee, nicht das einzige Tor in diesem Spiel. In diesem Leben.



Folge XI b: Rausgeberei

Wenn das Arbeitslosengeld noch nicht durch Zugfahrt und Eintrittskarte aufgebraucht worden ist, und auch nicht zerbröselt ist bei -20° in der Hosentasche auf den Stehplätzen, dann geht der gemeine Fußballfan vom Restgeld nach dem Spiel in die Kneipe. Und obwohl der gemeine studentische Fußballfan mangels Arbeitslosengeld kein Restgeld mehr hat, geht er auch mit, weil’s ihn halt friert.
 Auch ich begab mich mit den Mitfans Andi, Gilli und Zumsel mit steifen Bewegungen in Richtung Innenstadt, da wir uns von einer heißen Schokolade Wunderdinge erhofften, was die Reaktivierung von ehemals beweglichen Gelenkteilen anging.
Dabei kamen wir an einem rechteckigen Platz vorbei, an dem ungefähr sechs griechische Schnell- und sonstige Restaurants lagen, doch ich konnte auch durch mehrmaliges Hinsehen keinen Tempel in der Mitte des Platzes ausmachen, wähnte mich also noch immer in Gladbach, verzehrte mich nach etwas Warmem, aber Zumsel und Gilli konnten sich nicht auf einen Griechen einigen, weshalb wir noch eine Ecke weiter vorwärtsfroren und schließlich die einzige nichtgriechische Kneipe auserwählten, die geheimnisvoll hinter einem dicken roten Vorhang verborgen lag, so daß wir uns schon von Hooligans eingeschlossen sahen, doch hinter dem Vorhang taten sich nichts anderes als kleine, leere Tische und ein Tresen auf, hinter dem ein Mann in Matrosen-Outfit an den Spirituosen spielte und uns freundlich begrüßte. Ob der leeren Tische in bester Bahnhofslage dachten wir, daß die Griechen wohl besser waren.
Wir aber setzten uns und bestellten.
Die Getränke kamen, der Matrose stellte sie so hin, daß genau jeder das falsche vor sich stehen hatte – nichts außergewöhnliches also.
Zwei Suppen kamen nach, schmeckten lecker, Andi lobte sie als selbstgemacht, Matrose sagte: „Nein, nein, die sind aus der Tiefkühltruhe. Geschickt, was? Habe ich schon seit Jahren“ – auch nicht direkt verwunderlich.
Ich bot Gilli und Zumsel freundlich meine Suppe an.
Alles ging also seinen normalen Gang, bis, ja bis wir zahlen wollten.
Matrose kam.
„So, wo fangen wir an? Bei Ihnen?“
„Ja, ich hatte eine heiße Schokolade mit Schuß ohne Sahne,“ sagte Zumsel
„Aha!“, sagte Matrose, schaute nachdenklich auf seinen Block, auf dem zusammenhangslos die Zahlen 3,50 und 4,20 standen, zog einen Strich unter dieselben, schrieb die Ziffer 4 darunter und sagte weiter: „4,50 bitte!“
Zumsel grinste, gab zehn Mark, sagte „Fünf“, worauf Matrose hinter den Tresen verschwand, die Kasse erklang, Matrose in die Küche verschwand, wiederkam, die Kasse erklang, Matrose zum Tisch kam, mir fünf Mark geben wollte, dann Zumsel fünf Mark gab und Andi groß anschaute.
„Ich hatte eine Suppe.“
„Mit Brot?“
„Jaja, Brot war auch dabei.“
Wieder die selbe Zahlenspielerei, Gemurmel der Art: „Suppe, Brot, Schokolade, Schuß“, dann das Urteil: „10,20!“
„Moment, ich hatte nur Suppe!“
„Ach?“, sagte Matrose, „kann das sein?“
Wir nickten bekräftigend und heftig.
Matrose rechnete erneut und schätzte: „5,20!“
Andi gab 10 Mark und 20 Pfennige, Matrose verschwand, Kasse, Küche, Kasse, Geldklimpern, schwere Schritte, fünf Mark lagen vor mir, die ich Andi zuschob.
Ich war dran.
„Heiße Schokolade, Suppe mit Brot.“
Eine harte Nuß. Langes Rechnen. Ich dachte: „9,40“, er sagte: „10,35!“
Ich runzelte die Stirn. Er grübelte. Ich runzelte tiefer. Er sagte: „Entschuldigung, natürlich 10,30!“
Ich war feige und wollte zudem auf Kasse-Küche-Kasse verzichten, gab widerwillig 10,30. Matrose ließ sich kein Lächeln anmerken.
Dann Gilli. Heiße Schokolade ohne Schuß mit Sahne. Ist natürlich auch kompliziert. Matrose rechnete wieder. Dann haute er sich an den Kopf.
„Na klar! Sind natürlich auch 10,30!“
„Nein, nein, ohne Suppe!“
Ein „Ach?“ entfuhr Matrose abermals, dann die neue Hochrechnung: „Vier Mark!“
Gilli war zufrieden, zog einen Zwanziger, Matrose sah ihn lange an, verschwand wieder, länger als sonst, wir wurden schon unruhig, die Kasse erklang häufiger als sonst, der Zug fuhr schon bald, Matrose ließ sich Zeit, feierte seinen Zwanziger, kam nach endlos langer Zeit zurück, legte mit feierlicher Geste genau ein Markstück auf den Tisch, sagte: „So, daß war’s endlich! Ich wünsche einen schönen Tag!“
Proteste, Diskussionen, Feilscherei, zwei Züge und 32 Kassenklingeln später hatte Gilli immerhin 13,97 zurückerhalten, wir verließen lachend, aufgewärmt und doch leicht ärgerlich das Lokal, welches heute vermutlich seine Jahreseinnahmen gedeckt hatte, und werden nächstes Mal wohl zu einem Griechen gehen.