www.albrecht-reuss.de | Stand: 23.04.2017 | Impressum

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Der Fußgängersteg

Ein Fußgängersteg ist ein Fußgängersteg. Mag man zunächst meinen. In Wappenstadt hingegen ist ein Fußgängersteg ein Politikum, und zwar aus dem einfachen Grund, dass in Wappenstadt alles ein Politikum ist. Alles jedenfalls, was nicht alle gleichzeitig haben können. Wenn also die Deininger einen Fußgängersteg bekommen sollten, hieß das gleichzeitig, dass die Meininger und die Seininger keinen bekamen. Und damit hatte die Stadt ein Problem, das quer durch die Fraktionen reichte.
Sowohl bei den Unabhängigen Freien als auch bei den Freien Unabhängigen waren die Deininger in der Minderheit. Und da die Seininger und die Meininger dachten, dass eine Neue Mitte für sich genommen für Deiningen genügte und man nicht auch noch einen Fußgängersteg dorthin brauchte, wo doch eh alle Seininger und Meininger das Auto nahmen, beschlossen sie, das Projekt auf subtile Weise zu sabotieren. Denn hätten sie es offen bekämpft, hätte man sie für kleinbürgerlich und egoistisch gehalten. Hätten sie es umgekehrt aber gar nicht bekämpft, hätten sie im eigenen Stadtteil als Schlaffis gegolten und zahlreiche Wähler verprellt. Also mussten sie clever sein und im Rat die nötigen, sagen wir, kreativen Beschlüsse fassen.
Es begann mit einer für den Durchschnittsbetrachter ganz normalen, eben durchschnittlichen Fußgängerüberführung. Sie war herausgekommen, nachdem der Rat, und zwar einstimmig, die Planung des Stegs beschlossen hatte. Ein schlichtes, aber sicherlich günstiges Modell.
»Wunderbar!« urteilten die Deininger Ratsmitglieder.
»Zu klobig!« meinten jedoch die anderen und verhinderten – über den Umweg der fraktionsinternen Geschlossenheit – einstimmig den Baubeschluss. Natürlich waren noch immer alle für einen Steg, nur eben nicht für so einen, also ging die Planung in die zweite Runde.
Zur Debatte stand nun eine filigrane Konstruktion, welche mit Stahlträgern und Seilen fast unmerklich die Gleise überspannte.
Auch diese Brücke fanden die Deininger ganz wunderbar, und die anderen fanden sie immerhin sehr hübsch, kamen nun aber auf die Idee, dass vielleicht auch Rollstuhlfahrerinnen oder Kinderwagenschieber über die Gleise wollten. Also war das offizielle Statement: Nicht behindertengerecht, oder im Politikdeutsch: Nicht barrierefrei. Start frei zur dritten Runde.
Nun lag eine Konstruktion vor, bei welcher sich in aufwändigen Schleifen eine Rampe um ein Gebäude schlang. Man konnte sich richtig vorstellen, wie das Gebäude von einer riesigen Beton-Python zu Tode gewürgt wurde.
Die Deininger fanden diese Lösung noch einigermaßen wunderbar, während diejenigen, die sie gefordert hatten, nun aufschrieen und das Ende jeder Baukultur in Wappenstadt gekommen sahen. (Als ob da noch was zu retten war.) Die Planer sagten: Kein Platz für eine andere Rampe, und die Politik sagte: Dann muss ein Aufzug her. Die Planer gingen wieder und kamen mit einem Modell zurück, welches wieder durch Zartheit bestach und zudem einen schlanken Aufzug integriert hatte.
»Die Kosten! Die Kosten!« riefen nun die heimlichen Gegner des Projekts und forderten eine genaue Untersuchung der zu erwartenden Ausgaben. Die Planer rechneten, und wie zu erwarten war, brach das jüngste Supermodell hinsichtlich der Baukosten alle Rekorde.
Ratlosigkeit im Ratsgremium. Herr Dr. Hausberger versuchte nun das Projekt zu retten, indem er einen Architektenwettbewerb vorschlug. Man habe schon so viel geredet und gemacht, jetzt helfe nur noch die breite Kreativität eines Wettbewerbs, und dann solle das Ding endlich gebaut werden.
Der Wettbewerb verschlang etwa ein Jahr und ein paar weitere Euro. Auf den vorderen Plätzen landeten dann eine eher normale Variante, eine sehr filigrane und eine mit einer aufwändigen Rampe. Eine sehr Zarte mit Aufzug holte sich den ersten Preis. Leider hatte man vergessen, den Wettbewerbsteilnehmern mitzuteilen, die Brücke solle nicht zu teuer werden.
Der Rat war wieder so schlau wie zuvor. Nur dass er nun einen neuen Planer am Hals hatte, der mit einer Lösung, welche der ursprünglich favorisierten zum Verwechseln ähnlich sah, den Wettbewerb gewonnen hatte und nun noch ausgefallenere Kostenvorstellungen einbrachte als man sich jemals hätte vorstellen können.
Bevor dieser Herr Wettbewerbsgewinner weiterplanen konnte, teilte der Kämmerer jedoch mit, dass die Planungskosten mittlerweile die verfügbaren Baugelder aus dem Haushaltsplan weit überschritten hätten. Folglich habe man kein Geld mehr, die Brücke, nachdem sie geplant war, nun auch noch zu bauen.
Der Rat war offiziell erschrocken, während die Meininger und Seininger unter dem Tisch heimlich zum ersten Triumphgeheul ansetzten. Doch noch war nichts gewonnen.
Zunächst wurde das Thema vertagt. Diese Zeit nutzte Frau Dr. Berger-Haus, um mal rauszufahren und sich die Sache vor Ort anzusehen. Verwundert stellte sie fest, dass auf der anderen Seite der Gleise gar kein Supermarkt mehr war.
Man hätte annehmen können, dass das Thema damit endgültig erledigt war, doch damit keiner der Herren und Damen Gemeinderäte sein oder ihr Gesicht verlor, wurde ein letzter formvollendeter Kompromiss geschmiedet.
Der Rat beschloss, und zwar einstimmig, zunächst ein Gutachten in Auftrag zu geben, das die Notwendigkeit der Brücke prüfen sollte. Und um das leichter herauszufinden, sollte ein wenig schönes, aber zweckdienliches und günstiges Provisorium aufgebaut werden. Und schon hatte Wappenstadt seinen Steg! Denn ein Provisorium – ein Provisorium ist eben immer nur ein Provisorium, und damit ist es in Wappenstadt das Einzige, das kein Politikum ist.