www.albrecht-reuss.de | Stand: 24.10.2010 | Impressum

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Die Geschwindigkeitskontrollanlage

Neulich, als ich so zwischen Seiningen und Deiningen unterwegs war, da war ich mal wieder voll bei der Sache. Nur leider bei einer ganz falschen.
Anstatt auf den Verkehr zu achten, dachte ich an Verkehrtes. Das hatte zwar auch mit Verkehr zu tun, aber mit dem verkehrten Verkehr, sozusagen. Nein, nicht was Sie jetzt denken; ich war, um genau zu sein, mit meinen Gedanken nicht beim aktuellen Verkehr, sondern beim den gestrigen.
Da fuhr ich nämlich mit einem entfernten Nachbarn fahrgemeinschaftlich und beifahrerseits zum Elternabend. Und es kam, wie es kommen musste: Wir fuhren an einer Geschwindkeitskontrollanlage vorbei. Die Geheimpolizei bat mich nach dem ungefragten Probelesen, nicht von Radarfalle oder Starenkasten zu schreiben, da dies bereits eine wertende Wortwahl sei. Sie haben ja auch recht. Mein Nachbar hingegen hätte das nicht so schnell eingesehen.
Damit wir das nicht vergessen: Es passierte natürlich nichts. Mein Nachbar späht diese Dinger aus fünfhundert Meter Entfernung auf, wenn es sein muss auch durch Wände, und in der Regel reichen diese fünfhundert Meter dann gerade so, um auf Normgeschwindkeit zu gelangen. Damit könnte die Geschichte zu Ende sein, aber mein Nachbar wollte sich nicht damit zufrieden geben, dass nichts geschehen war.
„Das ist eine Riesen-Sauerei!“, schrie er unvermittelt und bewies cholerische Qualitäten. „Die reine Geldmacherei ist das. Pure Freiheitsberaubung!“
Man könnte es auch Verkehrsregeln nennen, wollte ich erwidern, aber er war zu schnell.
„Ich könnte jedesmal ausrasten, wenn ich einen Blitzer sehe. Vor einer Schule könnte ich es ja noch verstehen. Aber hier ist doch nicht einmal eine Gefahrenstelle!“
Zornesröte pointierte sein Gesicht.
„Wegelagerer sind das, Halsabschneider, Gesindel!“
Das beschäftigte mich.
Mein Nachbar schien es als sein Grundrecht anzusehen, die Geschwindkeit grundsätzlich zu überschreiten, wenn er sich nicht gerade vor einer Schule befand, er bestand also gleichsam darauf, die korrekte Geschwindkeit jeweils selbst einschätzen zu dürfen. Neben dem Grundrecht auf billiges Benzin schien mir aber auch das Grundrecht auf freie Geschwindkeitswahl auf den ersten Blick nicht wirklich schlüssig.
Ach hätte man da schöne Sätze erwidern können!
Ich war so geplättet von der Überzeugtheit meines Fahrers, dass ich leider überhaupt nicht in der Lage war, einen dieser prägnanten Sätze, eine dieser entlarvenden Fragen anzubringen. Und deshalb dachte ich auch nun, einen ganzen Tag später, noch angestrengt darüber nach.
Vielleicht kennen Sie diesen Effekt. Man ist unzufrieden mit sich, hätte gerne anders gehandelt und möchte die Geschichte gerne in einem kleinen Detail neu schreiben. Man denkt darüber nach – und eigentlich wäre die Angelegenheit damit erledigt. Weil sich durch das Für-erledigt-Erklären die Geschichte aber noch nicht umschreibt, denkt man über das Gleiche nochmals sehr viel angestrengter nach. Und dann nochmals. Und dann noch angstrengter. Und irgendwie verfängt man sich in dem Glauben, wenn man nur angestrengt genug nachdenken können würde, dann, ja dann würde sich die Geschichte vielleicht doch nachträglich abändern lassen. Und so sagte ich meine Sätze und Fragen mit Hingabe vor mich hin, bis ich mich schon in einem Graubereich zwischen Nachdenken und Fernhypnose befand.
Zum Beispiel hätte ich entgegnen können: Ich wusste noch gar nicht, dass man die Geschwindigkeit nur vor Schulen einhalten muss.
Oder: Sie haben ja so recht. Kinder dürfen ja laut Straßenverkehrsordnung ausschließlich vor Schulen die Straße überqueren.
Oder: Nun ja, wenn das hier eine Gefahrenstelle wäre, dann wäre Tempo 30 vielleicht angebrachter gewesen.
Oder: Kennen Sie sich wirklich in jedem Ort so gut aus, dass Sie die Gefahrenstellen von selbst erkennen?
Oder: Würden Sie es akzeptieren, wenn Autofahrer vor ihrem Haus selbst entscheiden dürften, welche Geschwindkeit sie der Gefahrenlage nach für angemessen hielten?
Oder: Was war das? Plötzlich macht es: Blitz! Wie von einem selbigen erschlagen starre ich auf den Tacho: zu schnell! Da war ich wohl in Gedanken?
Und wieder würde ich die Geschichte gerne umschreiben. Wie kann es sein, dass mein Nachbar, der auf jedem Meter, den er zurücklegt, ohne jedes Unrechts-bewusstsein unsere Kinder gefährdet, ungeschoren davon kommt, während ich braver Verkehrsteilnehmer für meine Argumentationshilfe gegen Raser mit einem Bußgeldbescheid bestraft werde? Das ist doch nicht gerecht! Ich überlege, ob das Ausreißen der Geschwindkeitskontrollanlage ein angemessenes Vorgehen wäre, um dieses Missverständnis auszuräumen. Nun, es könnte wohl falsch verstanden werden.
Andererseits weiß ich auch nicht, ob die wahre Geschichte wirklich auf fruchtbaren Boden fällt. Für manche klingt sie vielleicht zu konstruiert. Wie auch immer. Jetzt habe ich sie Ihnen mal erzählt, Herr Wachtmeister, und nun könnten Sie von dem Knöllchen doch absehen. Oder? Wissen Sie, das Geld für den Anwalt, das haben doch auch immer nur die anderen.