www.albrecht-reuss.de | Stand: 08.12.2008 | Impressum

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Großereignis Bundesliga

Der Ruhrpott ist eine Fußballregion. Und Dortmund ist eine Fußballstadt. Gewinnt der BVB, ziehen die Schrebergartenbesitzer die schwarz-gelben Fahnen auf, verliert er, so trägt die Stadt Trauer – doch wie auch immer das Spiel ausgeht, die Stadt steht Kopf. So ist es überall im Ruhrpott. Und dann gibt’s da noch Duisburg.
Ein Mitbewohner von mir ist Hamburg-Fan. Als er zum Spiel Duisburg-Hamburg ging, hing ich mich an, um einige ehemalige Freiburger Spieler zu sehen, und verdrängte, daß Duisburg und Hamburg die mit Abstand langweiligsten Mannschaften der Liga sind.
Wo genau das Stadion in Duisburg lag, wußten Lars und ich nicht, als wir so gegen 17.45 Uhr in Dortmund in die S-Bahn stiegen. Wir dachten – was sich als fatal herausstellen sollte –, daß ein Stadion, in das Zigtausende von Menschen pilgern, kaum verfehlt werden kann.
Da man in einer derartigen Menschenmasse immer auch falschen Gestalten über den Weg laufen kann, versteckte Lars seinen Hamburg-Schal zur Sicherheit unter dem Kragen seiner Jacke, als wir in Duisburg Hauptbahnhof ausstiegen. Doch verwundert schauten wir uns um. Da es nur noch eine Stunde bis zum Anpfiff war, hätten wir mehr weiß-blaue (Duisburg) und blau-weiße (Hamburg) Schals vermutet, als tatsächlich zu erkennen waren. Nämlich keine.
‘Die sind aber alle schon früh im Stadion,’ dachten wir und gingen zur U-Bahn, um nach einer Verbindung ins Wedau-Stadion zu suchen. Dabei nahmen wir an, daß es eine Haltestelle mit diesem Namen geben mußte. Es gab keine. Es gab auch keine U-Bahn zum Stadion. Hilflos irrten wir umher und fragten Passanten, die entweder von Auswärts waren, keine Antwort geben wollten oder wegen einem zu hohen Alkoholspiegel keine Antwort geben konnten. Langsam stieg im Bauch das Kribbeln hoch, das besagte: Wir müssen um jeden Preis beim Anpfiff im Stadion sein, sonst falle ich auf der Stelle tot um!
Angesichts der polaren Temperaturen und löchrigen Handschuhe war ich der Meinung, daß das nicht einmal die schlechteste Variante gewesen wäre. Wir beschlossen aber durchzuhalten und fanden auch bald (genauer: nach viertelstündigem, aufgeühltem Im-Kreis-rum-Gejage) in der dritten Kelleretage des Südflügels des Gepäck-abfertigungsbaus einen Bustunnel, von dem aus eine Linie zum ‘Sportpark Wedau’ fuhr.
‘Aha!’, dachten wir. ‘Das muß ein Buspendelverkehr zum Stadion sein.’
Nach 25 Minuten kam ein Bus. Drin saßen alte Frauen mit Einkaufstaschen und pöbelnde Kinder. Wir stiegen ein.
Der Bus knatterte los. Die Pflastersteine schlugen Löcher in den Magen, und an jeder Ampel verwandelte der vibrierende Motor den alten Wagen in einen Whirlpool ohne Wasser. Noch 10 Minuten bis zum Anpfiff.
Wir schauten uns nervös an. Die Haltestelle ‘Sportpark Wedau’ aber war noch weit. Jedes Licht, das wir durch die angelaufenden Scheiben sehen konnten, deuteten wir als Flutlicht des Stadions, mußten dann aber eingestehen, das es Straßenlaternen oder entgegenkommende Autos gewesen waren.
Nach und nach stiegen alle anderen Fahrgäste aus. Dann, etwa zeitgleich mit dem Anpfiff, hielt der Bus am ‘Sportpark Wedau’. Wir sprangen aus dem Bus und stürzten uns wahllos in eine Richtung in die Dunkelheit. Als der Bus abgefahren war, begannen wir zu denken.
Zu sehen war kein Stadion, kein Fußballspiel und kein Mensch. Überwucherte Sandplätze mit zerbrochenen Toren wechselten sich ab mit kaputten Autos und verrosteten Industrierohren.
Wir stellten uns vor, wie Cardoso die Hamburger bereits in Führung geschossen haben mochte, während wir versuchten, in der Dunkelheit festzustellen, wo Süden war.
Dann setzten wir uns ein neues Ziel: Wir wollten zur zweiten Halbzeit im Stadion sein. Die Wedau hatten wir inzwischen gefunden. So rasten wir los. Immer weiter durchs nasse Gras und durch dornige Büsche. In Dinslaken drehten wir um. Nun rannten wir durchs nasse Gras und durch dornige Büsche in die andere Richtung. Es war bereits Halbzeit. In der 48. Spielminute zerriß ich meine Jacke an einem Stacheldraht, in der 59. Minute trafen wir auf ein Wohngebiet, in der 74. Minute trafen wir im selben Wohngebiet nach zahllosen Fehlversuchen auf einen Passanten, der mit dem Begriff ‘MSV’ etwas anfangen und uns den Weg zum Stadion schildern konnte.
So stürmten wir in der 81. Spielminute siegessicher aufs Marathontor zu. Das Flutlicht strahlte hell, doch der Lärmpegel hielt sich sehr in Grenzen. Wir weckten den Mann im Kassenhäuschen und drängten uns durch die Drehtür.
„Warte kurz!“, rief Lars. Er wollte nach der anstrengenden Hetzjagd noch kurz eine Stadionwurst mitnehmen. Die Leute in der Wurstbude blickten gelangweilt drein.
„Eine Wurst bitte!“
„Das dauert aber zwanzig Minuten. Wir müssen erst das Wasser heißmachen.“
Lars verzichtete auf die Wurst, wir spurteten die Treppen zur Tribüne nach oben, um wenigstens die letzten fünf Minuten der Partie mitzubekommen. Wieviele Tore mochten wir bereits verpaßt haben? Wie viele Cardoso-Schüsse? Wie viele Zeyer-Dribblings? Wie viele Spies-Rückpässe?
Wir starrten in ein leeres Rund und auf einen leeren Rasen! Schon vorbei? Hatten wir uns in der Zeit vertan? Über uns stürzte eine Welt zusammen. Minutenlang saßen wir auf den Stufen und konnten es nicht fassen, fühlten uns wie nach Freiburgs Abstieg oder Münchens Meisterschaft, konnten kaum denken und kein Wort reden.
Das Flutlicht ging aus und wir krochen nach draußen. Am Ausgang wurden wir auf einen kleinen Zettel mit krakeliger Schrift aufmerksam, der an den Zaun gepinnt war und des Rätsels Lösung barg: „Spiel fällt aus mangels Interesse.“