www.albrecht-reuss.de | Stand: 03.01.2014 | Impressum

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Der Hagelschaden

Es war ein durchaus frostiger Morgen im Dezember. Die Arme vor der Brust verschränkt, um ein klein wenig Wärme einzufangen, stand ich neben meinem Wagen und atmete Nebel in die klirrend klare Luft. Der Gutachter der Versicherung war nun schon zwanzig Minuten an meinem Wagen zugange, konnte aber nicht die kleinste Delle entdecken, gleich welches Bauteil er auch unter die Lupe nahm. Für jedes der anderen geschätzten 200 Autos, die auf Geheiß der Versicherung an diesem Morgen auf dem riesigen Industrie-Parkplatz aufgefahren worden war, hatte er, ich hatte das aus Langeweile angefangen mitzustoppem, hatte er im Mittel genau 2 Minuten und 34 Sekunden benötigt, der Median lag bei 2 Minuten 19 Sekunden, aber einmal gab es Komplikationen wegen eines Hagelkorns, das angeblich von hinten unten gegen das Auto geprallt sein sollte, dort, wo normalerweise die typischen Auspark-Kratzer zu finden sind, und, ja, das Hagelkorn sei auch quasi so vorbeigeschrammt, dass dabei natürlich keine Delle, sondern eben ein Kratzer, man möchte sagen, ein typischer Auspark-Kratzer entstanden sei. Das war der zeitliche Ausreiser nach oben. Aber 20 Minuten, wie bei mir nun, das sprengte alle Rekorde.
„Entschuldigen Sie, junger Mann,“ entsann sich der Gutachter, das Problem vielleicht doch nicht nur mittels Akribie, sondern auch unter Zuhilfenahme von Kommunikation anzugehen.
„Können Sie mir nochmal genau sagen, wo ihr Auto zum Zeitpunkt des Hagelereignisses stand?“
„Wie ich schon sagte: Bei meinem Opa vor dem Haus.“
„Wo wohnt denn ihr sehr geschätzter Herr Opa, wenn ich fragen darf?“
„In Amstetten auf der Schwäbischen Alb.“
„Aber dort hat es doch gar nicht gehagelt.“
„Zum Glück!“
„Kann es dann möglicherweise sein, junger Mann, dass Sie gar keinen Hagelschaden haben?“
Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Natürlich habe ich einen Hagelschaden.“
„Aber Dellen haben Sie ja wohl keine!“
„Das habe ich ja auch nie behauptet. Jetzt schauen Sie sich halt endlich mal die Handy-Ladeschale an. Oder muss ich hier Ihre Arbeit machen?“ Ziemlich zerknirrscht kroch der Gutachter auf den Fahrersitz und machte sich an der Handy-Vorrichtung zu schaffen. Ich muss zugeben: Normalerweise habe ich etwas mehr Respekt vor solchen Leuten, aber nachdem unsere Nachbarn eine Gutachterin erwischt hatten, die bei der Aufnahme von Schäden auf dem Dach gefragt hatte, wie denn die roten Dinger da oben auf dem Dach nochmal hießen, hatte ich mir vorgenommen, mir nichts gefallen zu lassen.
„Und was soll nun mit Ihrer Ladeschale sein. Die ist doch tadellos. Wie neu!“
„Eben!“
Mich traf ein genervter Blick.
„Wissen Sie, mir ist das völlig egal, ob Sie eine neue oder alte oder gar keine Ladeschale haben. Ein Schaden ist das jedenfalls nicht.“
„Jetzt warten Sie doch mal einen Augenblick. Ich starte jetzt den Motor, bis sich das Handy mit dem Auto verbindet. Was sehen Sie jetzt?“
„Nichts.“
„Eben!“
„Na, was soll ich schon sehen?“
„Das Handy verbindet sich nicht mit dem Auto.“
„Na und?“
„Sollte es aber! Tat es auch – früher. Aber nun mit der neuen Ladeschale: Fehlanzeige! Neue Technologie, was weiß ich...“
„Und was habe nun ich mit der ganzen Sache zu tun?“
„Sie sind ja auch nicht gerade von der hellen Sorte. Aber nun gut. Ich erkläre es Ihnen. Warum wohl habe ich eine neue Ladeschale? Natürlich weil ich ein neues Handy habe. Das passt jetzt nicht mehr auf die alte Schale. Ist ja immer so. Aber ich wollte ja gar kein neues Handy. Das alte war eben kaputt. Und warum war es kaputt? Weil es aus meiner Brusttasche in den Wassereimer gefallen war. Ja, ich merke schon, dass Sie jetzt denken, selber schuld, aber wer stellt sich denn schon einen Wassereimer in den Hausflur? Sehen Sie: Keiner! Außer, außer eben man hat einen Hagelschaden und das Wasser tropft zum Dachfenster rein. Sehen Sie! Und jetzt schreiben Sie bitte auf: Kunde braucht ein neues Auto, damit Handy wieder ordnungsgemäß mit Auto kommuniziert.“
Der Gutachter hat tatsächlich irgendwas aufgeschrieben, bevor er weitergezogen ist. Aber von der Versicherung habe ich bis heute nichts gehört. Die begreifen einfach nicht, was man als Kunde heute erwarten darf.