www.albrecht-reuss.de | Stand: 13.11.2010 | Impressum

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Integration (2)

Mesut Özil erhält einen Bambi in „Integration“! Es war, als habe Gott eben die Sonne ein zweites Mal erfunden, so glücklich war ich, als ich diese Schlagzeile las. Hastig riss ich den Artikel aus der Zeitung und rannte, den fetzen Papier wie ein Taschentuch wedelnd, zu meinem Freund Bora rüber.
Bora, das habe ich vor Jahren schon berichtet, war als Asylbewerber in dieses Land gekommen und seither gegen den Willen der Ureinwohner um Integration bemüht, und zwar schon lange bevor das Wort „Intergrationsunwilliger“ überhaupt erfunden war.
„Bora!“, rief ich, „heute ist ein Freudentag!“
Er schaute mich an.
„Endlich hat dieses Land definiert, was es unter Integration versteht. Das bedeutet, das bedeutet –“, ich war ganz aufgeregt, „das bedeutet, dass du nun endlich eine Chance hast, hier aufgenommen zu werden.“
Ich war so gerührt, dass ich ihn ganz fest umarmte. Bora wusste kaum, wie ihm geschah.
Mit etwas Abstand würde ich formulieren: Endlich hat dieses Land definiert, wo die Messlatte liegt.
Da Bora jedoch der integrationswilligste Einwanderer war, der mir jemals begegnet ist, nahm er die Herausforderung an.
Leider gab es keinen Sprachkurs in „Deutsch als Fußballersprache“, und in die normalen Sprachkurse kam er auch nach nunmehr elf Jahren Wartezeit nicht rein, aber er nutzte die Zeit für intensive Waldläufe und Training mit dem Ball. Frau Weiß und ihre Kolleginnen Ureinwohner rümpften die Nase, als sie Bora am hellichten Tag durch den Wald rennen sahen. Sie hatten die Zeichen der Zeit wohl immer noch nicht verstanden.
Im Job-Center lagen leider auch Wochen später noch keine Stellenangebote von Bundesligisten vor, so dass Bora trotz fortgeschrittenen Alters den langen und steinigen Weg nehmen musste. Aber er war an Schwierigkeiten gewöhnt und blieb auch hier tapfer.
Nach einigen Probe-Einheiten war der heimische Kreisliga-Trainer bereit, Bora mitspielen zu lassen. Und als um die Faschingszeit herum einmal die halbe Mannschaft wegen unerklärlicher Übelkeit ausfiel, rutschte er sogar in die erste Elf. Der Anfang war geschafft.
Dann passierte ein Wunder.
„Bora schießt Deutschland zum WM-Titel“, las ich Jahre später die unglaubliche Schlagzeile. Ich konnte sie dieses Mal leider nicht ausreißen und damit zu Bora rennen. Das lag zum einen daran, dass es nur noch elektronische Zeitungen gab, zum anderen aber auch daran, dass Bora gerade bei einem Fußballturnier am anderen Ende der Welt war und auch so nicht mehr nebenan wohnte.
Er war inzwischen dermaßen integriert, dass er ein großes Haus auf einem noch viel größeren Anwesen besaß, weit weg von hier an einem bayerischen See. Das Anwesen war von einem hohen Zaun umgeben und hatte eine Videoüberwachung am Tor. Ich glaube nicht, dass Bora das wirklich so wollte. Aber die Ureinwohner hatten die Eigenschaft, dass sie umso mehr von den Einwanderern wissen wollten, je besser sich diese integrierten. Ununterbrochen belagerten sie ihn mit Kameras und Teleobjektiven und wollten wissen, mit wem er das Bett teilt, was er morgens auf sein Brot schmiert und welches Haargel er benutzt.
Da er es nicht sagen wollte, übernahm diese Aufgabe Frau Weiß. Sie war fast täglich im Fernsehen zu sehen und erzählte davon, wie sie schon sein großes Talent erkannt hatte, als sie ihn das erste Mal als Jungen gesehen und zu sich ins Haus eingeladen hatte.
Bora aber musste sich teure Autos mit verdunkelten Scheiben kaufen und mit teuren Sonnenbrillen verkleidet in teuren Restaurants essen gehen, um diesen ständigen Attacken durch das Volk und dessen Medienvertretern zu entgehen.
Und je mehr er sich rar machte, desto mehr liebte es ihn. Alle lagen sie ihm zu Füßen. Doch einen Bambi geben, das wollten sie ihm nicht.
„Bora“, rief ich ihn eines Tages an, „ich muss dir etwas beichten.“
„Das kann sicher nichts Schlimmes sein, mein Freund.“
„Ich weiß es nicht. Sieh her: du hast dein Leben völlig umgekrempelt, nur um diesen blöden Bambi zu kriegen. Und jetzt, viele Jahre später, fällt mir auf, dass ich den Zeitungsartikel damals völlig falsch gedeutet hatte.“
„Wie meinst Du das? Was hätte ich denn anders machen sollen?“
Da erklärte ich ihm die Sache mit Mesut Özil noch einmal ganz genau. Und er verstand.
Es war ein bitterer und trauriger Tag für mich, aber Bora musste tun, was er tun musste. Zur nächsten Saison verließ er sein Land, das ihn liebte, und das er inzwischen auch liebte, und wanderte aus nach Spanien, um dort bei einem anderen Fußballverein sein Glück zu suchen.
Und diesmal hatte ich recht! Schon im November des selben Jahres erhielt er den deutschen Bambi für „Intergration“. Verstehe nur einer die Deutschen, was sie darunter verstehen.