www.albrecht-reuss.de | Stand: 03.01.2014 | Impressum

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Das Jugendcafé

Vor zwanzig Jahren gehörte ich zur Zielgruppe. Ich war beinahe 16, als in meinem verschlafenenen Lieblingsweltstädtchen Blaubeuren plötzlich ein Jugendcafé eröffnete. Ich weiß es noch wie heute, wie ich damals unsicher und doch neugierig den Raum betrat, als es zur Premiere Gitarrenmusik gab, und wie ich hernach wie verzaubert war ob der schönen Musik und auch ob meines Mutes, mich hier unters Volk zu mischen. Für einen Jugendlichen von damals klangen die Gitarren wie die große weite Welt. Das Duo aus Bietigheim fühlte sich in diesem Moment für mich an wie Mailänder Scala.
Allein dieser Abend genügte, und ich wusste: Wenn ich einmal groß bin, werde ich Jugendcafé. Mindestens zwei Mal die Woche übte ich kräftig dafür – ach was war das nicht für eine schöne Zeit! Kumpels treffen, Bekannte treffen, Fremde beäugen, Karten spielen, lachen, reden, ja, auch hinter der Theke schufften und Verantwortung übernehmen. Ich möchte fast sagen: Das Leben fühlte sich so ewig an, es hätte genau so bleiben können. Heute muss man sagen: wir haben auch ganz schön was angestellt! Wir tranken nämlich immer wieder, ja, auch diese Seite gehört dazu, wir tranken, halten Sie sich fest: Wir tranken Bananenweizen.
Die Zeit aber blieb in der Realität nicht stehen, und so kam der Momemt, wo ich auszog, mein Leben zu meistern, und nach einer Zeit des Lernens und Studierens mein eigenes Jugendcafé zu eröffnen. Wir alle wünschen uns doch ewige Jugend, und wir alle wünschen uns nichts sehnlicher als den allmorgendlichen Kaffee – da schien mir eine Kombination aus beidem nicht der schlechteste Lebenszweck zu sein. Ich mietete also einen Raum, richtete ihn her, ersann eine Speisekarte, machte dies und jenes und öffnete schließlich voller Erwartungen und großer Vorfreude die Tür für die Gäste.
Am Anfang saß ich ziemlich allein da.
Aber später wurde es auch nicht besser.
Ich will nicht sagen, dass ich eine schlechte Zeit hatte. Ich wusste, am Anfang würde ich einen langen Atem brauchen, und es hatte ja auch was Nettes, nur die Musik hören zu müssen, die ich hören wollte, selber immer den schönsten Platz am schönsten Tisch zu bekommen, und ständig kistenweise Bier vor dem Verfallsdatum zu retten, neue Sorten zu testen, wie ein echter Geschäftsmann große Bestellungen aufzugeben, diese dann wiederum kistenweise vor dem Verfallsdatum zu retten und so weiter und so.
Es war ein Leben als Café-Besitzer, das ich mir zwar anders vorgestellt hatte, aber das doch auch seine schönen Seiten hatte, nur kann ich nicht behaupten, dass es wirtschaftlich ein großer Erfolg war.
Ich weiß nicht mehr, ob es die Bank oder mein innerer Antrieb waren, die dafür sorgten, dass ich an meinem Geschäftsmodell etwas ändern musste.
Ich änderte den Namen von „Jugendcafé“ in „Lustiges Jugendcafé“, weil ich irgendwo gelesen hatte, das helfe, so wie ein „Salat“ zum „knackigen Salat“ und eine „Tomate“ zur „frischen Tomate“ würden, wenn sie sonst keine positiven Eigenschaften hätten. Doch der Efolg blieb erstmal aus.
Ich warf die Stickdecken meiner Großmama weg. Doch der Erfolg blieb erstmal aus.
Ich hüpfte auf meinen Möbeln rum, schmierte sie an, schüttete Bier drüber, drückte eigens hierfür erworbene Zigaretten darauf aus, klopfte den Putz von den Wänden, bis der Backstein kam und ließ – ganz jugendaffin– die härteste Musik laufen, die ich im Laden fand. Doch der Erfolg blieb erstmal aus.
Da kam der Augenblick, als ich in den Spiegel sah und dachte: Weißt Du denn überhaupt, was die Jugend heute sucht? Ist das denn überhaupt das selbe, was du früher gesucht hast? Bilder schossen mir durch den Kopf von gut frisierten jungen Menschen mit Handy in der Hand und Laptop in der Tasche. Und ich begriff.
Es bedurfte einiger Anstrengungen, die ich an dieser Stelle überspringe, aber am Ende deren stand sie: die einzigartige, exklusive und saumäßig coole Jugendcafé-App für Smartphones. Sie war mit Twitter und Facebook und wie sie alle heißen gekoppelt, so dass die Jugendlichen nun virtuell mein Café betreten konnten und virtuelle Getränke bestellen. Gleichzeitig wurden sofort ihre Freunde über diese Aktivität informiert. Etwa „Lisa trinkt gerade einen Latte Macchiato.“ Oder „Peter schenkt Dir ein Bier.“ Mit kleinen, klug ausgedachten Sonderfunktionen sorgte ich dafür, dass man Freigetränke bekam, wenn man Freunde einlud, und dass man sich Getränkegutscheine erarbeiten konnte, indem man regelmäßig meine Seite besuchte und virtuell beim Abspülen half. Wenn man genug erarbeitet hatte, durfte man eine Filiale eröffnen und selbst Getränke verkaufen, und – ach, ich erspare Ihnen die Details, jedenfalls war die Sache ein bombastischer Erfolg, ein gigantischer Schneeball war losgetreten, und FarmVille konnte bald einpacken.
Die Sache hatte nur einen Haken. Ich hatte vergessen, damit irgendwie Geld zu verdienen, und ich hatte noch immer keinen einzigen realen Gast. So saß ich immer noch allein vor meinen fast abgelaufenen Bieren und überlegte wieder. Verließen Jugendliche ihr Zuhause eigentlich nie? Kamen sie denn nie an einem gemeinsamen Ort zusammen? Doch, das taten sie! Und wie! Man musste es nur richtig angehen.
Ich eröffnete einen eigenen Facebookaccount „Lustiges Jugendcafé“ und stellte eine „öffentliche Veranstaltung“ ein. Waren das nicht die Dinger, wo ruckzuck tausende Jugendliche zusammenkamen und nach kilometerlangen Fußmärschen, auf denen sie Kisten von Bier und Schnapps schleppten, kleine Dörfer stürmten und unglaubliche, gigantische Parties feierten? Nun, die Idee war diesmal wirklich gut, aber der Erfolg, der blieb erstmal aus.
Doch wieder hatte ich begriffen. Ich löschte den Account „Lustiges Jugendcafé“ und eröffnete den Account „Nina, 16, hübsch, aufgeschlossen“, erstellte die Veranstaltung „Geburtstagsfeier nur für meine allerliebsten und engsten Freundinnen“ und klickte wiederum – quasi versehentlich – auf „öffentlich“.
Und was soll ich sagen: Der Plan funktionierte! Diesmal kamen die Bier und Schnapps schleppenden Jugendlichen tatsächlich, in Heerscharen kamen sie, so dass das Café in Nullkommanichts gefüllt war und sich große Menschenmassen in den Straßen drängten. Sie bestellten zwar nichts, weil sie alles dabei hatten, aber sie benahmen sich immerhin so, dass es zu meinen gepimpten Möbeln passte und hatten einen Riesenspaß. Ich war am Ziel meiner Träume so gut wie angekommen, für Jugendliche einen Raum für ihre Suche ins Leben geben zu können. Die Sache veränderte allerdings ein wenig ihren Charakter, als nirgends eine echte Nina, 16, hübsch und aufgeschlossen aufzufinden war, so dass die mittlerweile vereinzelt stockbetrunkenenen und in Ausnahmefällen zu Aggressivität neigenden vorwiegend männlichen Jugendlichen nun mehr Spaß daran hatten, den frisch belebten Raum in seinen Einzelteilen zu untersuchen und diese Stück für Stück auseinander zu nehmen und anders, irgendwie chaotischer wieder zusammenzusetzen.
Im Film würde man jetzt abblenden und am anderen Morgen würde ich im Sonnenaufgang auf einem Trümmerhaufen sitzen, aus dem Staubwolken aufsteigen, und es würde eine düstere, und doch tröstliche Melodie eingespielt.
Nein, man kann nicht sagen, dass ich deprimiert gewesen wäre. Eigentlich hatte ich ja ziemlich genau das erreicht, was ich erreichen hatte wollen, nur dass die Party etwas wilder geworden war als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Lange dachte ich deshalb darüber nach, was es denn gewesen war, das mir trotz allem gefehlt hatte. Und mir wurde klar: Es war das Bananenweizen.
Und endlich begriff ich: Man kann die Jugend nicht einfach zurückholen. Sie würde heute auch nicht mehr schmecken.