www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Im Kleinkindabteil

Wer mit der Deutschen Bahn unterwegs ist, hat in der Regel zwei Komfortklassen, unter denen er allerdings nicht frei wählen kann: Entweder er kommt eine Woche zu spät, oder er steht im Gang, die Nase an der Scheibe plattgedrückt, und in dem winzigen Spalt zwischen ihm und der Abteiltür ein Zwei-Zentner-Vielfraß im kratzigen Naturwoll-Pullover und läusehaltigem Vollbart, der genauso wie der Pulli und der gesamte Körper seit der 68er-Revolution nicht mehr gepflegt worden war. Neulich lernte ich unverhofft eine dritte Komfortklasse kennen: das Kleinkindabteil.
Die Schwemme an Studenten mit Sporttasche schwemmte mich vor ein fast leeres Abteil, dessen kleine weiße Zettel in den Reservierungsfelder besagten, es handle sich um ein Kleinkindabteil. Das Kleinkindabteil unterschied sich von einem gewöhnlichen überalterten Intercityabteil 2. Klasse durch nichts weiter als eben diese kleinen weißen Zettel.
Ich ließ mich bereitwillig hineinschwemmen und nahm den vierten von sechs Sitzen in Beschlag. Direkt hinter mir drückte sich eine junge Dame durch die Tür und nahm gegenüber Platz. Die insgesamt fünf jungen Abteilinsassen einigten sich schnell darauf, daß die Gefahr einer Kleinkindinvasion um 21 Uhr nachts sehr gering sei und fühlten eine warme Gemeinschaft aufsteigen, auf dem Gefühl gründend, der anschwellenden Masse an Naturwollpullis auf den Gängen entflohen zu sein.
Die Gemeinschaft hielt bis zum Piepsen der Türen. Just zu diesem Zeitpunkt drückte eine junge Mutter mit einem der Bezeichnung Kleinkind genügenden Jungen in der Hand ihre Nase durch die Tür und fragte: „Ist das nicht das Kleinkindabteil.“
Die Gemeinschaft schmolz binnen Sekunden von fünf auf vier Personen, wurde aber um so verschworener und bündelte sich in finsteren Blicken auf die Frau, die als letztes das Abteil aufgesucht hatte. Ihr Hals wurde merklich kleiner, sie verschwand flugs mit einem entschuldigenden: „Entschuldigung“, und der Rest der Gemeinschaft war froh darüber, diese kurze Krise ohne Einbußen in der Komfortqualität überstanden zu haben. Diese Einschätzung sollte sich aber, kaum daß sie gedacht war, als falsch erweisen, sagte doch die junge Mutter, noch ehe sie Platz genommen hatte: „Sie brauchen jetzt starke Nerven.“
Wir lachten und lachten auch noch, als der kleine Tolpatsch auf unseren Füßen rumtrampelte beim Versuch, mit seinem Mini-Zoo zu spielen, sämtliche Armlehnen gegen zaghaften Widerstand der Armlehnen-Benutzer mit Vorliebe hoch und runter klappte, kurzum, das Abteil gut unterhielt. Dann wurde der Junge müde und sollte schlafen. Und jeder weiß: Kleine Kinder, die schlafen sollen, aber nicht schlafen können oder wollen, werden quengelig, weinerlich, alles mögliche und zuletzt unausstehlich.
Der erste Fehler war, daß mein Sitznachbar gerade eine Flasche Fanta öffnete.
„Das will ich auch“, piepste es postwendend von Gegenüber. Ging aber nicht – die Flasche war gerade geleert worden. Dennoch piepste es unverdrossen: „Ich will auch. Ich habe Durst! Faaaantaaaaa!“, daß sich letztlich mein Sitznachbar bereiterklärte, sich trotz Naturpulliallergie durch den Gang zu drücken, um eine Flasche Fanta für den Kleinen zu besorgen.
Der Aufwand und die Kosten hatten sich unzweifelhaft gelohnt. Der Junge war zwei Sekunden lang ruhig.
„Es ist zu hell! Das Licht blendet! Ich kann nicht schlafen!“
Ohne einen Hauch von Protest knipsten alle das Licht aus, klappten ihre Bücher, die allesamt gerade an der spannendsten Stelle waren, zu, legten ihre Köpfe zur Seite und schliefen unverzüglich ein. Nur einer, der jüngste Fahrgast, brüllte: „Es ist zu dunkel! Ich habe Angst!“, und jagte seine Mitfahrer aus den kurzen Träumen. Und weil wir einen Augenblick zu spät reagierten, um das Licht wieder anzumachen, sprang der kleine Bengel von selbst auf, schrie und weinte und schlug nach den Lichtschaltern, wobei seine Mini-Zoo-Schachtel aus dem Gepäckfach fiel und sich 213 Mini-Zoo-Tiere auf dem Abteilboden verteilten.
Das Schreien jaulte zu ungeahnten Dimensionen auf, und keinen Wimpernschlag später lagen vier gerade noch völlig unbeteiligte Intercityreisende auf dem dreckigen Fußboden und sammelten Mini-Zoo-Tiere ein, das 213. fanden sie erst kurz hinter Worms, nachdem sie das Gitter vom Lüftungsschacht abgeschraubt hatten.
Durchatmen.
Der Junge hatte sich ans Dunkel nun gewöhnt, wir hingegen an den Umstand, daß diese Fahrt keine gewöhnliche Zugfahrt war, was wir wenig später bestätigt fanden, als die junge Mutter wie selbstverständlich unsere Jacken abnahm, um ihr Kind zuzudecken. Wir lächelten bereitwillig, schließlich hatte sie als einzige Kleinkindbegleiterin im Kleinkindabteil ein gewisses Recht dazu. Und schließlich entschuldigte sie sich für jeden einzelnen Nuckel-Sabber-Flecken im Futter mit einem aufmunternden Blick.
Der Junge aber wollte nicht schlafen können, weil ihm der Platz zwischen Mami und Hotelfachfrau zu klein und überhaupt nicht wie das hellblaue Bettchen mit dem großen Bild vom Bär darüber zu Hause vorkam, was in ihm den Entschluß reifen ließ, diesem eklatanten Platzmangel durch einen gezielten Tritt in den Magen der Hotelfachfrau Ausdruck zu verleihen.
 Kleiner Trost: Die Nuckel-Sabber-Flecken fielen gegenüber den Sprenkeln von durch die Hotelfachfrau Erbrochenem deutlich ab.
Die Jacken wurden auf den Gang gehängt, wo sie neben den 68er-Pullis und -Bäuchen kaum auffielen, das Kindchen nun mit unseren restlichen warmen Sachen warmgehalten, was uns kaum störte noch fröstelte, denn wir saßen nun ohnehin zu viert auf unserer Seite, damit der Bub endlich schlafen konnte, und er schlief.
Leider gehörte er zu der Gattung von Kleinkindern, die während des Schlafes sehr plötzliche und wesentliche Ortsveränderungen vornehmen, und so mußte ich einmal erstens reaktionsschnell sein und zweitens todesmutig, um den Kleinen vor einer unsanften Landung auf dem mittlerweile von unseren Hosen gesäuberten Boden zu bewahren.
Die Mutter bedankte sich, jedoch noch schneller hatte sie den Platz, auf dem ich gerade noch gesessen hatte, zu einer durchgehenden Liegefläche für ihren Schatz umfunktioniert. Und dasselbe hatte sie dem Anschein nach mit den beiden verbleibenden Sitzen vor. –

Das Bild strotzt nur so vor Idylle: Der Schnellzug rattert unter der Loreley den Rhein entlang durch die stille, friedliche Nacht. Im Abteil ist die Beleuchtung auf das Minimum reduziert. Tiefe Ruhe hat sich ausgebreitet auf der roten Liegefläche, auf der ein kleiner Junge in seinen Kinderträumen steckt und sich selig hin und her wälzt und abwechselnd in mein graues Sweatshirt und meines Nachbars blaues Sakko lullt und sich fühlen muß wie der Prinz aus seinem Märchenbuch.
Und in den Gepäcknetzen sitzen vier junge Menschen, Studenten und Hotelfachfrauen, lassen entspannt die Beine baumeln, verrenken sich den Nacken an der niedrigen Decke, planen schon den Termin beim Masseur für den nächsten Tag ein, lachen sich ein Lächeln zu, das von spontaner Gemeinschaft zeugt, und wenn sie auf den Gang rausschauen, wissen sie, daß alles noch viel schlimmer hätte kommen können.