www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Als Fremder, noch dazu als voreingenommener Fremder, versucht
man natürlich jeden Tag 24 Stunden lang, seine mühsam gebildeten
Vorurteile über das Ruhrgebiet bestätigt zu finden. Nachdem ich
jetzt bald schon zwei Jahre diesem einzigartigen Kulturkreis angehöre,
hat sich mein Bild des Pottes und der Pötter endlich einmal mehr nicht
bewahrheitet. Es wurde übertroffen.
Der Grund dafür ist, daß alle Raumplaner eine
Kneipe aufmachen. Manche, nachdem sie keinen Job finden. Manche auch schon
im Semester Numero 4. Und weil das so ist, waren wir an diesem Abend auf
Kneipen-Renovierungs-Besichtigungstour in der Stadt, und wurden daraufhin
wie vom Schicksal geleitet in eine Kneipe gespült, die verheißungsvoll
freundlich „Bei Mutter Köhm“ hieß. Es muß Schicksal gewesen
sein, denn anders hätten wir kaum den schmalen Eingang zwischen Sexshop
und Bahnbrücke finden können.
Und ich nehme stark an, daß wir ohnehin die einzigen
waren und bleiben werden, die jemals diesen Eingang erstens wahrgenommen
und zweitens auch noch betreten haben. Denn dahinter verbarg sich nichts.
Zumindest nichts, was im entferntesten dem mitteleuropäischen
Standard einer heruntergekommenen Kneipe entspricht. Alles war in einem
Stil gehalten, der sich allenfalls anhand eines 50er-Jahre-Bürogebäudes
umschreiben läßt: Sperrholzplattencharme in Farbe Buche metallic,
die Tische abgerundet, vormals eckig, alles so ekelig glänzig furniert,
wäre es nach dem ersten Weltkrieg schonmal geputzt worden.
Womöglich mögen andere Kneipen ähnlich
eingerichtet sein, doch diese war auch noch so grell beleuchtet, daß
man an dem Grauen einfach nicht vorbei sehen konnte. An der Theke saßen
Leute, die aussahen, als gehörten sie zur Einrichtung, der Barkeeper,
dessen Lebensgeschichte ich lieber nicht erfahren will, stand stolz und
einarmig dahinter, und durch herunterhängende Backen plusterte er
unverständliche Worte in hoher, heiserer Stimme. Hinter ihm schmückte
ein Regal im Stile eines Setzkastens den schlauchförmigen Raum. Alles,
was einmal ein Gartenzwerg werden will, war darauf ausgestellt. Weil fürs
Bier trotzdem Platz sein muß, waren im Raum verteilt die Kisten aufgestapelt.
Wir setzen uns.
Meine Annahme, daß wir die ersten Menschen waren,
die jemals diese schmale Tür betreten hatten, fand ich darin bestätigt,
daß uns jeder der zur Einrichtung gehörenden Gäste eine
Runde spendiert hatte, noch ehe wir die Chance hatten, eine Bestellung
aufzugeben.
Das hatte einen großen Vorteil: Man ertrug die
Carolin-Reiber-Musik aus der Music Box im Suff deutlich leichter.
Es hatte aber einen entschieden größeren Nachteil:
Man mußte schneller aufs Klo.
Ich ging also auf die Tür zu, auf der das berühmte
Männlein aufgemalt war. Dahinter tat sich ein langer, schmaler Gang
auf. Ich ging ihn nach hinten bis zu einer weiteren Tür. Dahinter
befand sich etwas, das ich im folgenden hilfsweise „Die Toilette“ nennen
werde. Die Tür zu diesem Raum ließ sich nicht schließen,
da sie selbst im angestrebten Zustand eine Ausformung von fünfzig
Zentimetern offenbarte. Doch ich hätte auch nie im Leben versucht,
sie zu schließen, aus purer Furcht, sie nicht mehr öffnen zu
können und vor Ekel zu sterben.
Ich überlegte, ob ich zunächst mein Bedürfnis
befriedigen sollte und mich dann übergeben oder andersrum. Ich entschied
mich in erster Linie dazu, mich zu beeilen. Hätte ich nämlich
so lange gebraucht, bis der nächste IC über „Bei Mutter Köhm“
hinweggedonnert wäre, wäre ich in durch die Erschütterung
in eine Wolke aus Staub und Putz und Fäkalien geraten, der keinem
Horrorfilm standgehalten hätte. Zumindest malte ich mir dieses Szenario
bildhaft aus angesichts des quadratmetergroßen, zugedreckten Lüftungsgitters
und den unzähligen Löchern in der Wand. Ob ich wirklich meine
Notdurft verrichtete oder gleich wieder nach draußen stürmte,
vermag ich nicht zu sagen (der Klodeckel, welcher in der Ecke lehnte, ist
unter diesen Umständen nur eine Klammerbemerkung wert). Auf dem Weg
zurück in die Freiheit bemerkte ich jedenfalls gerade noch das in
die Wand gemeißelte Pissoir in dem Bereich, den ich zunächst
für einen Gang gehalten hatte.
Ich ertränkte meinen Schock mit den nächsten
Runden, die uns ausgegeben wurden, und tröstete mich mit den bleichen
Gesichtern meiner Begleiter, wenn sie erstaunlich schnell von der Herrentoilette
zurückkehrten.
So fühlten wir uns zunehmend heimisch in der Kneipe,
beobachteten genüßlich die zur Einrichtung gehörenden Gäste
beim allabendlichen, intergenerativen gegenseitigen Anbaggern, gaben schließlich
auch der Music Box einen etwas zeitgenössischeren Touch, worauf die
Lokalrunden ein jähes Ende fanden, zahlten schließlich keinen
Pfennig und lallten uns irgendwann gegen Morgen zurück ins Freie und
in die beschauliche studentische Welt.
Ach ja, warum ich den Lebenslauf des einarmigen Kneipenwirtes
lieber nicht wissen wollte: Ich befürchtete, er könne ein Raumplaner
sein.