www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Der Kofferträger

Reisen bildet. Zugreisen erst recht. Lange Schlangen zum Beispiel an den Kassen. Und machmal auch gehöriges Chaos. Zum Beispiel, wenn irgendjemand einen Koffer sprengen will. Gestern etwa – und ich mittendrin.
Hinterher hieß es dann: Sicherheitsdienst hatte Lage nicht unter Kontrolle. Retten ohne System. Erst wurde Zug evakuiert, später plötzlich der ganze Bahnhof. Wie soll sich da die Bevölkerung sicher fühlen? Mir jedenfalls wurde ganz anders, als ich die Schlagzeilen heute sah. Schließlich will man ja schon noch ein paar Tage auf dieser Erde verweilen. Man hat ja auch nie jemand was zu leide getan. Man war immer zuvorkommend und hilfsbereit. Ich wüsste nicht, weshalb ich es verdient hätte, wegen fanatischen Koffervergessern in Kombination mit wirren Ordnungskräften plötzlich ins Jenseits befördert zu werden. Wenn es jemand anders sieht, möge er jetzt die Stimme erheben.
Gestern also war wie gesagt großes Chaos im Zug. In so einer Situation denken die Leute ja nur noch an sich selbst! Ich bin da in gewisser Weise die Ausnahme zur Regel. Wie wir so in den Bahnhof einfahren, kommt plötzlich die Durchsage: Zug evakuieren! Herrenloser Koffer gesichtet! Alles drängt sich schon an den Türen! Und sobald diese aufgehen, quillt der Inhalt des Zuges sozusagen auf den Bahnsteig. Ein unangenehmes Bild! Kein Wunder, wenn da die ein oder andere alte Dame ihren Koffer vergisst. Jetzt stand der so ganz alleine rum, als ich mich als letzter anschickte, nun auch den Zug zu verlassen. Wenn der Zug erst mal evakuiert ist, dann findet die alte Dame ja gar nicht mehr zu ihrem Koffer zurück! Da findet sie eher zu mir auf den Bahnsteig, dachte ich, obwohl sie mich gar nicht kennt. Also nahm ich hilfsbereiter Erdenbürger kurzerhand ihren Koffer mit mir aus dem Zug.
Jetzt standen wir alle auf dem Bahnsteig und warteten, was passiert. Man wusste ja gar nicht, wohin. Man wusste ja gar nicht, wie man weiter kam. Also konnten wir nur abwarten. Der Zug wurde derweil von vermummten Gestalten gestürmt, und ich betete darum, dass sie von der richtigen Seite waren. Man sah ihnen das nicht recht an. Ich hielt immer wieder Ausschau nach der kofferlosen alten Dame, die ich so gerne mit ihrem vergessenen Koffer beglücken wollte. Sicher machte sie sich riesige Sorgen. Ich weiß gar nicht genau, wieso ich mir so sicher war, dass es eine alte Dame war. Vielleicht war es nur deshalb, weil ich mir so gut vorstellen konnte, wie sie völlig verzweifelt durch den Bahnhof irrte und nicht mehr in den Zug zurück durfte und nach ihrem Koffer sehen mit den kleinen Leckereien für ihre süßen Enkel drin.
Wie ich noch so über ihre Familiengeschichte sinnierte, wurde ich plötzlich durch eine Durchsage aufgeschreckt: Bitte verlassen sie den Bahnhof! Das fiel ihnen aber schnell ein! Wenn so ein Zug in die Luft geht, das kann einen am Bahnsteig ja nicht ganz unberührt lassen. Hoffentlich finde ich die alte Frau bald, ich kann ihren Koffer ja nicht den ganzen Tag rumtragen! dachte ich und schleppte mein doppeltes Gepäck aus der Bahnhofshalle. Fortan das gleiche Bild auf dem Bahnhofsvorplatz: Wartende Menschenmengen, so weit das Auge reicht, und kein rechter Plan, wie das alles weitergehen sollte. Die vermummten Gestalten übten im Bahnhofsgebäude Häuserkampf, aber sie machten dabei ganz und gar nicht den Eindruck, zielgerichtet eine Bombe zu entschärfen.
Zielgerichtet? Von wegen! Auf einmal fiel den Sicherheitskräften ein, sie könnten ja auch noch den ganzen Bahnhofsvorplatz räumen lassen! Die Lage wurde immer unübersichtlicher, und meine Chance, die koffersuchende alte Frau zu finden, sank in dem Chaos weiter. Ich überlegte ernstlich, den Koffer einfach stehen zu lassen, aber mein großes Herz ließ mir dann doch keine andere Wahl. Also nahm ich den Koffer wiederum zu mir, als wir von den Ordnungshütern in eine Seitenstraße abgeschoben wurden.
Vielleicht erwischt es den gesamten Bahnhof, wenn’s knallt, dachte ich erschrocken, denn ein anderer Grund für die abermalige Evakuierung fiel mir nicht ein. „Die finden vielleicht den Koffer nicht mehr,“ witzelte ein Nebenmann, dem es an dem nötigen Vertrauen in die Staatsgewalt fehlte. Die tun sicher einen guten Job, widersprach ich, auch wenn es nicht ganz danach aussah. Vielmehr sah es tatsächlich so aus, als suchten sie nun den Bahnhofsvorplatz nach irgendetwas ab.
So langsam wurde mir die Sache etwas bunt, denn irgendwann wollte ich dann doch noch irgendwie nach Hause. Vielleicht gab es eine Möglichkeit mit den Überlandbussen ab Rathausplatz. Ja, das hörte sich brauchbar an. Bei aller Nächstenliebe, ein bisschen Liebe gilt auch meiner Frau und meinen Kindern, also beschloss ich, den Koffer beim städtischen Fundamt abzugeben, und machte mich hernach auf eine nicht gerade komfortable, aber doch zielorientierte Busreise nach Hause.
Der ganze Aufstand hat sich dann übrigens als blinder Alarm rausgestellt. Das macht mich im Nachhinein etwas wütend. Zumal eine mir unbekannte Frau dadurch ihren Koffer verloren hat. Wie unnötig! Ob sie ihn überhaupt wiederbekommt, ist leider auch fraglich. Denn die zweite Schlagzeile heute lautete: Unerklärliche Explosion im Rathaus! Hoffentlich ist ihrem Koffer nichts passiert.