www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
In über zwei Jahren Beziehung habe ich schon allerhand
Konstellationen erlebt: Freundin ganz da, Freundin weit weg, Freundin ganz
weit weg, und neuerdings eine ganz delikate: Freundin muß lernen.
Ich kam vom Studienort Dortmund voller Vorfreude nach
Süden, um in den Semesterferien ordentlich aufzutanken, was den Kontakt
zu meiner Freundin anbelangte. Doch was mußte ich am Telefonhörer
vernehmen? Meine Freundin muß lernen, zehn Tage lang. Ein Schock.
Sie sagt, sie kann nicht lernen, wenn ich da bin, was mich eigentlich freut.
Daß ich aber meine Freundin nicht sehen kann, wirft mein physisches
Gleichgewicht nicht nur aus der Waagschale, sondern gleich in den Abgrund.
Ich habe noch nicht einmal das Auto ausgeladen. Ich hänge
den Schlüssel an den Haken, suche mein Auto im Keller, finde es in
der Garage, abgeschlossen, hole den Schlüssel und vergesse, die Sachen
auszuladen.
Meine Freundin muß lernen.
Ich will mich frisch machen, gehe ins Bad, mache mich
frisch, packe meine Sachen in den Waschbeutel und den Waschbeutel in den
Schulranzen, wo ich ihn zwei Wochen nicht finde.
Meine Freundin kann mich nicht sehen.
Ich renne zu Hause gegen die Wand, kann meine Gedanken
nicht von meiner Freundin lassen, spiele Gitarre, werfe die Gitarre ins
Eck, will Satiren schreiben, bin im Kopf ganz leer, trinke Tee und sogar
Kaffee und nichts hilft.
Meine Freundin muß lernen.
Ich schaue bis vier Uhr nachts fern und bin am anderen
Morgen trotzdem müde. Ich erinnere mich an keinen einzigen Film. Ich
erinnere mich an gar nichts mehr. Außer daran: Meine Freundin kann
mich nicht sehen.
Da hilft nur noch eines: Fußball spielen, bis die
Lunge am Boden hängt. Zum Fußball spielen braucht man viele
Leute, und viele Leute findet man im nachbarlichen Internat. Alle müssen
sie lernen, meine letzte Hoffnung liegt auf Frank. An seiner Tür,
die verschlossen ist, hängt ein Zettel: Bitte weder klopfen noch sonstwie
stören. Ich klopfe und störe und vernehme ein leises „Hä?“.
Frank kickt eigentlich immer mit. Er murrt: „Nee, müde,
morgen vielleicht.“ Ich könnte wetten, Frank kann seine Freundin nicht
sehen.
Ich meine auch nicht.
Ich renne allein über den Platz, es regnet, ich
bin klatschnaß, ich bin noch nasser, weil ich den Ball über
den Zaun in den Bach schieße. Ich gehe duschen und langweile mich,
rechne aus, wieviele Stunden ich noch so verbringen muß und wähle
zwischen zwei Alternativen: Ich sauf mich ins Koma oder ich friere mich
ein.
Meine Mutter rät mir ab.
Ich kann meine Freundin nicht sehen.
Und dann tu ich, was ein Mann in dieser Situation tun
muß. Ohne viel zu überlegen, ohne etwas einzupacken, mit kaum
Geld in der Tasche, stürze ich aus dem Haus, mein Ziel vor Augen,
schieße mit dem Wagen aus der Garage, düse mit quietschenden
Reifen aus dem Hof, drehe die Musik laut, kaue einen Kaugummi, weil ich
nicht rauche, rauf auf die Autobahn und mit Vollgas dem rettenden Ziel
entgegen: Freiburger Dreisam-Stadion.