www.albrecht-reuss.de | Stand: 15.05.2010 | Impressum

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Der Liebste-Mama-Contest

Casting, Challenge, Contest – das Fernsehleben, ja, man muss sagen, auch das Fernsehleben ist nur noch ein einziger Wettbewerb. Das aufregenste und langfristigste Projekt dieser Art läuft seit Menschengedenken in meinem Heimatweltstädtchen ab: Der Liebste-Mama-Contest.
Es ist eine ziemlich geheime Angelegenheit. Die Kameras sieht man nie. Keiner kennt genau die Regeln. Es ist völlig offen, wann das Spiel endet und die Siegerin gekürt wird. Und dennoch machen alle mit. Keine will hinterher sagen müssen, man bzw. mama habe eine Chance nicht genutzt.
Der Reality-Contest ist derart verdeckt konzipiert, ich habe jahrelang selbst nicht davon gewusst. Begonnen hat dann alles erst mit einer Tomate. Ich war mit Freunden wandern, so richtig mit Rucksack und Picknick und Taschenmesser, allerdings eigentlich schon in einem Alter, in dem man sich das Butterbrot selbst schmieren kann (nachdem man zuvor selbst mit dem eigenen Dienstwagen zum Einkaufen gefahren ist und vom selbst verdienten Geld selbst das Brot und die Butter erworben hat), und so saßen wir bald bei angenehmem Nieselwetter vor einer Holzhütte im Wald und breiteten unsere Schätze fürs Mittagessen aus.
Ich hatte ein selbstgeschmiertes Butterbrot dabei.
Meine Freunde jedoch packten herzhaft belegte Schnittchen aus, gekochte Eier, liebevoll trapierte vorgeschnittene Karöttchen, besagte handverlesene Tomätchen, eigens zubereitete Fleischbällchen und speziell portionierte Marmorkuchenstückchen. Nicht zu vergessen die Deckchen, Becherchen und Windkerzchen, um auch für das richtige Ambiente zu sorgen.
Möglicherweise veranlasst durch meine großen Augen und meine tiefhängende Kinnlade rutschte meinem Kumpel Daniel das Wort „Liebste-Mama-Contest“ heraus. Zunächst begriff ich nicht recht, was das bedeuten sollte, und alle Versuche des Nachfragens wurden jäh abgeblockt, doch als ich am Abend dieses Tages beim In-den-Schlaf-hinein-Zappen über „Unser Star für Oslo“ stolperte, war mir sofort alles klar.
Bei meinem nächsten Besuch zu Hause ließ ich ebenso beiläufig, wie Daniel das getan hatte, den Begriff „Liebste-Mama-Contest“ fallen. Hätte ich das Thema offensiver angepackt, wer weiß, vielleicht wären wir dann gleich disqualifiziert worden. Das wollte ich nicht riskieren. Doch meine Mama hatte auch so begriffen.
Als wir das nächste Mal wandern waren, hatte ich neben all dem anderen Equipment noch ein aufblasbares Sitzkissen, einen Hochwerf-Runterfall-von-selbst-aufklapp-Regenschutz und einen Tischgrill dabei. Siegesgewiss strahlte ich umher und versuchte die versteckten Kameras zu finden, um mit einem stolz emporgereckten Daumen meiner Mamas Führungsposition zu bestätigen. Das muss für Außenstehende ziemlich albern ausgesehen haben, aber es gibt in manchen Situationen einfach Wichtigeres als Contenance.
Meine Begleiter waren sichtlich konsterniert, aber sie setzten schon bald zu neuen Attacken an. Als wir uns das nächste Mal zum Fußballspielen trafen, sagte Daniel scheinbar beiläufig: „Übrigens. Meine Mama hat mir noch schnell meine Schuhe poliert.“ Wie bitte? Ich musste also die Begebenheit ebenso zufällig nach Hause tragen. Und weil meine Mama schlichtweg den Spitzenplatz verdient hat, konnte ich beim nächsten Fußballspiel – natürlich ebenso beiläufig – folgendes Sätzchen einbringen: „Übrigens. Meine Mama hat mir noch schnell neue Schuhe genäht.“ Daniel war so getroffen, dass er das ganze Spiel über völlig neben sich stand.
Na ja, genau genommen nur das halbe Spiel über. Denn in der Halbzeit stand plötzlich seine Mama mit einem komplett neuen Trikotsatz und warmem Tee am Spielfeldrand, was ihm wieder neue Energie verlieh. Ich jedoch hatte plötzlich den Kopf nicht mehr frei, und konnte erst wieder ruhig schlafen, als ich meinem Freund am späten Abend noch simsen konnte, dass ich eben einem Entmüdungsbecken entstiegen sei, das meine Mama während des Spiels für mich getöpfert hatte.
Ich fürchte nun, so wird das noch eine Weile gehen, denn keiner kennt Anfang und Ende dieses kuriosen Spiels. Unsere Mamas müssen bis an die Grenzen gehen, um zwischen Kinderkirche und Kirchengemeinderat, Schülercafé und Internatsdienst, Häuslesbauen und Pflegeaufgaben noch die nötigen Punkte für den Contest einzuheimsen. Und je größer die Wahrscheinlichkeit wird, selbst einmal zur Elternseite zu gehören, desto größer (um nicht grammatikalisch frei zu sagen: desto unermesslicher!) wird der Respekt für die Selbstverständlichkeit, mit der das alles scheinbar nebenbei erledigt wird.
Ja, wenn man das mal mit etwas Abstand betrachtet, dann muss man einfach unweigerlich zu dem Schluss kommen: Ich glaube, unsere Mamas mögen uns. Andererseits: Wenn man die genauen Hintergründe kennt, dann lautet die traurige Wahrheit vielleicht auch nur: Unsere Mamas wollen einfach alle nach Oslo. Oder habe ich da jetzt was verwechselt?