www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Wenn einem Brillenträger die Brille runterfällt,
bemitleiden ihn alle. Wenn aber einem Kontaktlinsenträger die Kontaktlinsen
ausfallen, lachen ihn alle aus. Bestenfalls.
Schlechtestensfalls passiert, was mir an einem dieser
Tage, an denen man besser nie aufgestanden, nein, an denen man besser nie
geboren worden wäre, wiederfahren ist.
Ich sitze in der Vorlesung eines österreichischen
Professors und versuche zu folgen. Das mag vielleicht als Grund angesehen
werden, daß mancher in Anbetracht des folgenden Unheils sagen wird:
Selber schuld! Wollte der Vorlesung folgen!, doch muß erwähnt
bleiben, daß dieser Professor nur folgende Studenten leiden mag und
zornig wird, wenn sich weniger als ein Student an der Vorlesung beteiligen.
Also versuche ich zu folgen, und ich beschließe, besser folgen zu
können, wenn ich lesen kann, was mir die großen Tageslichtfolien
von der Wand entgegenwerfen. Um sehen zu können, versuche ich mir,
die fünfeinhalb Stunden Schlaf aus den Augen zu reiben, ich reibe
– und flutsch, da passiert’s. Weltuntergang. Super-GAU. Selbstmordgefährdungsgraderhöhung.
Kurz: Meine linke Kontaktlinse hat sich verabschiedet. Gut, auch ein GAU
wird bei genügend oftem Eintreten zur Routine, und so denke ich rasch,
daß meine Linse sicherlich nicht den Hörsaalboden aufgesucht
hat, sondern schlicht auf Urlaub ist in den hinteren Regionen meines Auges,
wo sie indes ihren Zweck nicht einmal annäherungsweise erfüllen
kann.
Ich denke weiter, daß wenn ich mein Auge genügend
reibe, die Linse sich vielleicht hervorarbeitet, doch das Gegenteil ist
der Fall.
Ich teste aus, ob wenn ich den Kopf nach unten halte,
die Linse vielleicht nach vorne rutscht, ich nicke heftig mit dem Kopf,
blinzele, reibe, pule mit den Fingern herum, aber es passiert absolut nichts,
außer daß der Professor freundlich hämisch sagt: „Schön,
daß sie wieder bei uns sind,“ als ich nach einigen Minuten den rot
entzündeten Blick wieder nach vorne richte.
Die Erfahrung lehrt, daß das runde Stück Plastik
nur genügend Zeit braucht, um sich emporzuarbeiten, aber diese Zeit
habe ich in diesem Augenblick weißgott nicht. Also versuche ich es
mit weinen. Vielleicht läßt sich die verräterische Linse
ja ausheulen. Doch, wie könnte es anders sein an einem Tag, den man
besser übersprungen hätte: vergebens.
Ich bemühe mich nun, meine Aufmerksamkeit von dem
Dilemma ab- und dem Vorlesungsstoff zuzulenken. Na ja, denke ich, das rechte
Sichtfeld sehe ich ja noch ganz gut. Abwechselnd halte ich das linke Auge
zu, und dann wieder versuche ich, meinem Gehirn die Meisterleistung zuzutrauen,
aus +/- 0 und - 4,5 Dioptrien ein sinnvolles Bild zusammenzusetzen. Also,
meinem Gehirn gelingt das nicht.
Um noch ein klein wenig Ansehen beim Professor zu retten,
melde ich mich, beantworte eine Frage, aber dabei muß ich ihn wohl
ziemlich schief angesehen haben, außerdem schlug ich mein Zähne
ins Mikrophon und kniff ihm in die Hand, da das ungleiche Sehen den Gleichgewichtssinn
torpediert, und abgesehen davon werden mich nun sämtliche Mitstudenten
für als leicht Klapsmühlen-verdächtig einstufen, bis auf
eine, die Jahrgangshexe, die mein ständiges Augenzwinkern falsch verstanden
haben muß und mich mit zuckersüßen Briefchen übersät,
die über kurz oder lang in einem ruinösen Leben enden müssen.
So bin ich heilfroh, daß wenigstens diese Vorlesung
ein Ende hat, torkele zur nächsten und hoffe, daß meine Kontaktlinse
endlich ihren Dienst wieder antritt, da ich nach dieser Stunde eigentlich
mit dem Fahrrad nach Hause möchte.
Doch nichts bewegt sich. Ich setze mich in die erste
Reihe und strenge mich an, um wenigstens die rechte Seite der Tafel lesen
zu können, doch da ein Auge mit dieser Aufgabe überlastet ist,
und ein Einäugiger auf Dauer unkonzentriert und depressiv lethargisch
ist, fasse ich mir nach einiger Zeit wieder ins Auge, wieder macht es flutsch,
und ich sehe gar nichts mehr.
Nur noch von Ferne nehme ich die Erläuterungen wahr,
in einem Feld aus verschwommenen Farbpunkten, ein Traum in die Wirklichkeit
versetzt, keine Chance aufzuwachen. Immer verzweifelter blinzle ich, schüttele
den Kopf, pule und reibe und drücke Tränen ins Auge, und, oh
Wunder, das mit den Tränen klappt mit fortschreitender Verzweiflung
immer besser, so daß es, als ich nur noch kraftlos auf meinem Klapptisch
hänge, erst rechts flutsch macht, und wenig später auch links
– endlich – wieder flutscht, ich das Wunder des Wieder-Sehen-Könnens
ein weiteres Mal erlebe, und meine Mitstudenten mich nicht mehr wegen meiner
merkwürdigen Anwandlungen, sondern nur noch wegen meinem Heulanfall
während der Vorlesung verstoßen werden.