www.albrecht-reuss.de | Stand: 23.04.2017 | Impressum

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Lohngerechtigkeit

Am frühen Neujahrsmorgen, als ich in den Armen meiner lieben Frau Frauke erwachte, zollte ich ihr die größte Anerkennung, die ich zu zollen imstande war: »Frauke, du verdienst meine ganze Liebe und meinen ganzen Respekt.«
»Mir wäre es lieber, ich verdiente stattdessen etwas mehr Geld.«
»Würdest du dafür meine Liebe eintauschen?«
»Nein, natürlich nicht. Aber gestern Abend hat mir Herr Dr. Hausberger vorgerechnet, dass wir Stadträte unter dem Mindestlohn liegen, wenn wir unser Sitzungsgeld in einen Stundenlohn umrechnen. Das finde ich ungerecht.«
»Willst du damit sagen, dass jede Stadträtin lieber Zeitungsausträgerin werden sollte, weil sie dann besser verdiente?«
»Nun, Stadträtin bin ich ja schon gerne. Aber trotzdem finde ich das ungerecht.«
Ich beschloss, dieser Ungerechtigkeit auf den Grund zu gehen. Eine Zeitungsausträgerin musste so gesehen ja mit ihrem Lohn sehr zufrieden sein im Vergleich mit einer Stadträtin.
»Bist du mit deinem Lohn zufrieden?« fragte ich meine Tochter Karla, die sonntags in der Frühe als Zeitungsausträgerin jobbte. »Nein. Denn die Werbungsausträgerinnen bekommen das gleiche, müssen aber nicht so früh aufstehen!«
Werbungsausträger mussten glückliche Menschen sein!
Ich fragte Doris, eine Freundin von Karla, die nachmittags in dieser Branche tätig war.
»Nein«, sagte sie, »natürlich bin ich nicht zufrieden. Sehen Sie doch: Wir rackern uns für jede Stunde ab, die wir bezahlt bekommen, während andere in ihrer Arbeitszeit einen Kaffee nach dem anderen trinken, nur weil sie vorher irgendeine Ausbildung gemacht haben und nun fest angestellt sind.«
Da kannte ich einen!
»Gerechter Lohn? Dass ich nicht lache!« sagte Bertram, der Technische Zeichner im Stadtplanungsamt, der seine Zeit mit Kaffee in der Kantine absaß und offenbar trotzdem nicht zufrieden war.
»Bürgermeister Schaffter verdient drei Klassen besser als ich. Aber meinst du, der arbeitet auch drei Klassen mehr?«
Ich meinte das nicht, Schaffter aber sehr wohl.
»Abendtermine ohne Ende! Zehn mal Gemeinderat im Jahr!« lamentierte er, nachdem ich drei Wochen später einen Termin bei ihm ergattert hatte. »In der freien Wirtschaft würde ich in einem vergleichbaren Job ein Vielfaches verdienen.«
Herr Dr. Hausberger hatte einen vergleichbaren Job in der freien Wirtschaft, und ich war froh und dankte Gott, dass er nicht allein von dem armseligen Sitzungsgeld als Stadtrat leben musste. Im Unterschied zu meiner Familie.
»Unbezahlte Überstunden! Kein Tarifvertrag! Und wenn's nicht läuft, bin ich morgen weg vom Fenster. Wenn man das alles mit einbezieht, dann ist mein Gehalt lausig. Wirklich gut verdienen nur die obersten Chefs: nämlich die, die sich nur selber rausschmeißen können.«
»Und wenn Sie, mit Verlaub, Ihr Gehalt nicht mit den obersten Chefs, sondern mit einem Zeitungsausträger vergleichen?«
»Tut mir leid. Ich muss jetzt zu meinem nächsten Termin.«
Immerhin war er so freundlich und verschaffte mir noch ein Date bei seinem obersten Chef. Dass wir uns nun in der freien Wirtschaft befanden, erkannte man daran, dass ich dieses Mal nur sechs Wochen auf das Gespräch warten musste.
»Mein Gehalt ist allerhöchstens angemessen, aber keinen Cent zu hoch«, war sich der oberste Chef sicher, »für weniger würde den Job sicher keiner machen. In den USA verdienen Sie in gleicher Position locker das Doppelte.«
Noch immer hatte ich niemanden gefunden, der mit seinem Lohn zufrieden war, der seinen Lohn gar als gerecht empfand. Und nun führte mich meine Recherche sogar nach Nordamerika. Ich hoffte zuerst, dass der oberste Chef mir aus seiner Portokasse den Flug bezahlte, was er nicht tat, und nahm dann eben das Frachtschiff, da meine Audienz bei einem der obersten Chefs in den USA erst in acht Wochen terminiert war.
»Warum sollte ich mit meinem Gehalt zufrieden sein?« fragte er freundlichst. »Wir in der Baubranche sind gegenüber der Computerbranche doch hoffnungslos benachteiligt. Die richtig fette Kohle wird dort verdient!«
Also ließ ich den obersten Chef der Baubranche in seinem Elend zurück und suchte mir einen obersten Chef in der Computerbranche. Es soll da einen Herrn Rechnung Abflugtore geben, übersetzte man mir, und dieser Herr empfing mich schon wenige Monate später. In der Zwischenzeit recherchierte ich, dass dieser Herr Abflugtore mit einem neuartigen Fenstersystem der reichste Mann der Welt geworden sei. (Ich fragte mich noch, warum dieses Fenstersystem nicht der Bau-, sondern der Computerbranche zugerechnet wurde.) Wenn nun also alle ihr Gehalt als ungerecht empfanden, weil sie irgendeinen kannten, der noch mehr verdiente oder noch weniger arbeitete, dann musste doch wenigstens der reichste Mann der Welt nun mit seinem Gehalt zufrieden sein.
»Zugegeben, ich verdiene nicht schlecht«, hörte ich beinahe so etwas wie Zufriedenheit aus seinen Worten, »aber verglichen damit, wie vielen Leuten ich ein gutes Gehalt zahle und wie viele soziale Projekte ich unterstütze, bekomme ich entschieden zu wenig Liebe und Respekt.«
»Können Sie sich irgendeinen Menschen auf diesem Planeten vorstellen, der mit seinem Einkommen zufriedener ist als Sie, Herr Abflugtore?«
»Viele, viele«, antwortete er, »nämlich alle, die vielleicht nur einen Hungerlohn bekommen, dafür aber die Liebe und den Respekt eines ihnen nahe stehenden Menschen.«
Ich war so gerührt von seinen reflektierten Worten, dass wir zusammen in der nächstgelegenen Kneipe noch einen kleinen Absturz erlebten (darin schien er sich auszukennen). Dann war ich fast am Ende meiner Reise angekommen. Da Herr Abflugtore mir keinen Flug bezahlen wollte und damit leider weiterhin keinen Respekt verdiente, trampte ich mit einem Containerschiff nach Hause und fragte nun erneut meine Frau: »Der reichste Mann der Welt würde statt Geld lieber Liebe und Respekt verdienen. Du verdienst statt Geld meine Liebe und meinen Respekt. Bist du glücklich?«
»Ja, sehr, mein Schatz«, sagte sie. »Aber ein bisschen mehr Geld würde auch nicht schaden.«