www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Mit der Bahn in den Pott

Unternehmen Zukunft nennt sich die Deutsche Bahn.  Das heißt: Man kommt überall hin, wo man möchte. Nur nicht heute. In ferner Zukunft.
Meine Anreise nach Dortmund nach den Weihnachtsferien begann damit, daß ich einen Tag länger in Marbach blieb, um überfüllte Züge zu meiden.
So stieg ich erst am 7. Januar mit 15 Stunden Verspätung in einen überfüllten Zug. Die Überfüllung des Zuges führte leider zu einer leicht verzögerten Reisegeschwindigkeit in minderen Komfortzuständen. Am Nordbahnhof zogen Bundesgrenzschützler 100 Leute wegen Überfüllung aus dem überfüllten Zug, der wegen seiner Überfüllung nicht mehr fahren konnte. Darunter auch ich.
Ich nahm die S-Bahn nach Stuttgart Hauptbahnhof und stieg mit 16 Stunden Verspätung in einen überfüllten Zug. Dieser Zug war so überfüllt, daß Bundesgrenzschützler am Nordbahnhof 200 Leute aus dem Zug zogen, nur eben nicht mich. Die Reisegeschwindigkeit war indes kaum höher, so daß wir schon eine Verspätung von vier Stunden 22 Minuten, also insgesamt 19 Stunden 22 Minuten angehäuft hatten, als kurz vor Remagen der Zug kaputt ging.
Der Zugchef sagte: „In zehn Minuten kommt eine neue Lok.“
Nach zwei Stunden und zehn Minuten sagte er: „Es kommt keine neue Lok.“
Mit 21 Stunden 32 Minuten Verspätung verließen die Leute den überfüllten Zug und stiegen in einen anderen Zug, der bereits überfüllt in Remagen ungeplant Zwischenstation machte. War dieser Zug dann überfüllt!
Die Überfüllung des Zuges hemmte seine Reisegeschwindigkeit, aber es gab keine Bundesgrenzschützler und sie hätten sich hoffentlich auch nicht getraut, uns aus dem Zug zu werfen. Als der Zug in Köln einfuhr (1 Tag, 2 Stunden 43 Minuten Verspätung), war es stockfinster, weil der Bahnhof schon geschlossen hatte.
Der Zugchef sagte: „Dieser Zug endet hier.“
Die Ausgänge des Bahnhofs waren versperrt, damit keine Obdachlosen Obdach bekamen.
Die ehemaligen Insassen des ehemaligen überfüllten Zuges suchten sich Ecken zur Nachtruhe.
Morgens kamen dann Bundesgrenzschützler und steckten die ehemaligen Insassen des ehemaligen überfüllten Zuges in überfüllte Zellen, in denen sie normalerweise Leute wegsperren, die Obach suchen.
Da die Bundesgrenzschützler nicht gleich merkten, daß es sich hier nicht um Menschen handelte, die ein Obdach suchten, sondern die nach Dortmund wollten, gestaltete sich der weitere Reiseverlauf äußerst zäh.
Als wir den Kölner Bahnhof wieder betreten durften, hatte die Reisegesellschaft 3 Tage, sechs Stunden und 12 Minuten Verspätung.
Und hier beginnt die heiße Phase des Endspurts. Von Köln aus gibt es mannigfaltige Möglichkeiten, um nach Dortmund zu kommen, und die Kunst ist es, die schnellste auszuwählen. Ich entscheide mich für den Intercity über Duisburg und habe Glück im Unglück. Natürlich hat der Zug Verspätung, aber er geht immerhin nicht in Flammen auf.
Zwischen Essen und Bochum finde ich keine Ruhe mehr. Was sich in meinem Kopf an Gedanken hin und her und wild durcheinander schmeißt, ist nahe an der Chaosforschung. Wieder und wieder gehe ich meinen inneren S-Bahn-Fahrplan durch (in der Annahme, daß die Bahnen pünktlich sind – welch ein Irrglaube!). Fährt der Zug mit ein bißchen Verspätung in Bochum ein, fahr ich besser weiter, um in Dortmund eine erträgliche S-Bahn zu erreichen, hat der Zug aber ein bißchen mehr Verspätung, steige ich doch schon in Bochum aus, da ich die S-Bahn in Dortmund auch verpassen würde usw.
In meinem Kopf habe ich eine ausgetüftelte Tabelle angelegt, als der Zug in Bochum einfährt. Ich rechne. Sitzenbleiben. Aufstehen. Sitzenbleiben. Der Zug hält mit 3 Tagen, 7 Stunden, 4 Minuten und 13 Sekunden Verspätung ein, ein Grenzfall zwischen Bleiben und Gehen. Ich springe auf, hechte aus dem Zug, fliege die Treppen hinunter, die Treppen hinauf und verpasse die S-Bahn. Unfassbar: Sie war pünktlich.
Die nächste hat natürlich wieder Verspätung, und an der Uni beginnt das Rechenspiel von vorne. Nehme ich den Bus oder laufe ich? Wann bin ich schneller? Wie pünktlich ist der Bus?
Ich laufe, weil ich auf dem Weg dann gleich noch einkaufen kann. Nach dreieinhalb Tagen möchte man doch mal wieder etwas Eßbares in den Mund nehmen und nicht immer nur die Kordel des Kapuzenshirts, das man in der Verzweiflung aufessen wollte.
Nach dem Einkauf passiere ich eine Bushaltestelle und halte ein letztes Mal inne, ehe ich das Ziel meiner Odyssee erreicht haben werde. Kommt der Bus noch? Laufe ich? Warte ich? Laufe ich? Nachdem der Bus drei Minuten über die Zeit ist, laufe ich.
Und wieder liege ich falsch. In dem Moment, indem ein Zurückspurten unmöglich wird, biegt der Bus um die Ecke. Wenig später rauscht er an mir vorbei. Die Leute, die am Wohnheim aussteigen, belege ich aus der Ferne mit grimmigsten Blicken.
Mit allerletzten Kräften erreiche ich schleppend und kriechend mit 3 Tagen, 7 Stunden, 56 Minuten und 48 Sekunden Verspätung meine Wohnungstür.
Den nächsten Zug nehme ich nach Hause. Ich habe meinen Schlüssel vergessen.