www.albrecht-reuss.de | Stand: 23.04.2017 | Impressum

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Neue Energie

Manchmal gibt es Phasen in einer Stadt, da begreift man als Normalsterblicher nicht mehr, was vor sich geht. Eine solche Phase begann in der Geschichte von Wappenstadt, als der Benzinpreis über einsachtzig kletterte.
Urplötzlich war den Entscheidungsträgern klar: So kann es nicht weitergehen! Andere Energiequellen müssen her! Und wenn schon, warum dann nicht gleich erneuerbare? Als ich davon erfuhr, war ich wie vor den Kopf gestoßen. Ich hatte diese Einsicht erst in drei Generationen erwartet. Instinktiv wollte ich widersprechen, doch allmählich wurde mir klar, dass ich die Idee ja seit langem begrüßte.
Und wer Oberbürgermeister Annpack kennt, der weiß, dass er nur ganze Sachen macht. Also rief er: »Es werde Wind!« und es ward Wind. Auf einen Schlag wurde Wappenstadt mit Windrädern auf neuestem Stand zugespargelt, so dass kein Waldstück frei von Zufahrten und Leitungsgräben blieb und der gesamte Energiebedarf gedeckt werden konnte, inklusive der bescheiden dimensionierten Fußgängerzonenbeleuchtungsoffensive zur Aktivierung des örtlichen Kaufkraft­potenzials.
»Sind wir fortschrittlich!« feierten sich die Wappenstädter und wunderten sich, dass im Städtchen kein winziges Lüftchen mehr ging. Jeder Hauch von Luftbewegung wurde durch die zahllosen Windmaschinen in elektrische Energie umgewandelt, so dass hinter dem Windrädchenwald die Luft nur noch stand. Man fand heraus, dass der Einfluss auf das Klima viel direkter war als über den Umweg der Treibhausgase und verdammte die Dinger.
Da der Benzinpreis noch immer hoch war, machte Wappenstadt von nun an in Biomasse. Sämtliche Felder wurden auf Rapsanbau umgestellt und riesige Kraftwerke errichtet, welche die Exkremente der gesamten landwirtschaftliche Tierwelt zu Strom verzaubern sollten. Das ging so lange gut, bis die Tiere nicht mehr exkrementierten, da es am Input in Form von Futter fehlte. Schließlich wurde der Raps auf den Feldern ja bereits direkt in Strom überführt.
Bevor uns Menschen der Input auch noch ausgeht, dachten die Wappenstädter in erstaunlicher Klarheit, versuchen wir es besser mit Geothermie. Die soll ja so was von unendlich lange reichen!
Doch da hatte der warme Erdkern seine Rechnung ohne den Einfallsreichtum der Wappenstädter gemacht! Die wollten es wissen und bohrten alle paar Meter ein kilometertiefes Loch in den Boden. Die Temperaturen, auf die man dort unten stieß, ließen durch die mannigfaltigen Zugriffsrohre in der Tat nur unmerklich nach, so dass Wappenstadt seinen Segen gefunden zu haben schien und sich vermehrt der Frage zuwandte, wie der Energieverbrauch angesichts dieser Überversorgung angemessen zu steigern war.
Doch nur wenige Tage später wackelte die Erde so angsteinflößend, dass man dachte, das Ende von Wappenstadt sei gekommen. Letzteres traf zum Glück nur für den kleinen Zeitungs- und Blumenstand vor dem Seininger Bahnhof zu, der im porös gewordenen Seininger Karstbecken verschwand, als die zahlreichen Bohrlöcher im schwachen Gestein zu einem tiefen Schlund zusammenbröselten, und zwar ganz ohne Erdbeben. Und dann rief auch noch die Nasa an und sagte, die Weltkugel gerate in ein Ungleichgewicht, da die vielen Löcher zu einem Masseverlust geführt hätten, so dass die Wappenstädter auch dieses Experiment wieder einstellten.
»Solarenergie! Warum nicht gleich so!« rief Oberbürgermeister Annpack aus und vergab einen Großauftrag an die deutsche Industrie, der alles je Bekannte sprengte. Die Welt-Silizium-Vorräte reichten gerade so, aber die tapferen Wappenstädter Bürger konnten sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen, von nun an nie mehr die Sonne zu sehen, da ein riesiges Solarzellendach nicht nur die vorhandenen Dächer aufpeppte, sondern auch alle Straßen und Plätze überspannte und die Reste von Feld und Wald ringsum. Sonst hätte die erzielte Strommenge den gestiegenen Ansprüchen auf der Verbraucherseite nicht mehr genügt.
Immerhin rief diesmal keine Nasa an und es gab auch noch keine Klimaänderung. Es war nur ein klein wenig frostig unter den Dächern. Aber als kurz vor der Wahl die Minderheitsfraktion den Spruch »Freie Sicht zur Sonne wär die Wappenstädter Wonne« ersann, ließ der Oberbürgermeister alle Solarzellen wieder einschmelzen und verkünden, ein freiheitsliebender Bürger müsse mit einsachtzig an der Zapfsäule eben irgendwie klarkommen.
Das war die Ära von Wappenstadt, als der Benzinpreis auf einsachtzig stieg. Sie ging vorüber. Doch seither leben einige Intellektuelle in der ständigen Angst, er könne auf zwei Euro steigen.