www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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New Queing System

Engländer haben ein offenes. einladendes Naturell. In anderen Worten: Es ist ein Leichtes, auf die Insel zu gelangen. Nur runter kommt man nie wieder.
Nach einer zehntägigen Rundreise durch England waren meine beiden Freunde und ich wieder an der London Victoria Station angelangt. An Bahnsteig zwei konnte man direkt für die Fähren in Ramsgate einchecken. Dabei erfuhren wir, daß bis auf eine Fähre für diesen Tag alle gestrichen worden waren. Und für diese Fähre, erfuhren wir weiter, brauchte man ein Ticket aus dem Travel Centre, da die eigene Maschine einen Break Down hatte. So was kommt vor, davon darf man sich nicht beeindrucken lassen.
Ich übernahm die Organisation im Travel Centre und wurde mit der dem typisch englischen Schlangestehen konfrontiert, allerdings mit modernem Touch. Man steht nicht mehr Schlange, sondern man sitzt. Dazu läßt man sich von einer blonden Empfangsdame mit einem entzückenden „Sie werden verfaulen, ehe Sie hier bedient werden“-Lächeln im Gesicht eine Wartenummer geben, nachdem man ihrem offenen Herzen nach langer Diskussion anvertraut hat, daß es nicht stimme, daß heute alle Fähren gestrichen worden seien, und daß man für die eine, die es noch gebe, ausnahmsweise hier Fahrkarten kaufen müsse, da das Büro nebenan Probleme mit der Maschine habe.
Nach dieser ersten Hürde läßt man sich genüßlich auf einen der alten, gemütlichen Polstersessel fallen und wartet darauf, zu verfaulen. Zum eigenen Erstaunen schnappt die Nummernanzeige, die den nächsten Kunden aufruft, schon nach zwanzig Minuten von 52 auf 53. Man selbst vergewissert sich seiner Nummer und liest: „183.“
Aha, denkt man, dann müssen hier aber viele warten. Aber wo sind die denn alle? Man findet sie im Waiting Restaurant, in der Waiting Bar, im Waiting Theatre oder im Waiting Casino.
Langweilig wird es beim Warten nie. Immer kurz vor dem Einnicken geschieht etwas. Zum Beispiel macht einer der beiden geöffneten der insgesamt zehn Schalter Abendessenspause, oder die Angestellten bewerfen sich mit Papierkügelchen, oder Wartende schlagen ihre Zelte auf, oder es läuft spät abends ein Bauchhändler durch die Waiting Area und verkauft Taschenlampen, weil um 23 Uhr das Licht ausgeschaltet wird. Das Reisezentrum über Nacht verlassen? Unmöglich. Dann verfällt die Nummer.
Wir beschlossen also (indem wir unsere Nasen an der Glasscheibe plattdrückten, die das freie London von der Waiting Area abgrenzte, und uns pantomimisch verständigten), die Fähre am nächsten Tag zu nehmen, oder am übernächsten, oder am überübernächsten. Denn am nächsten wurden zunächst die Nummern 56 und 57 bedient, was hochgerechnet eine Warte-Erwartung von  zwei Monaten und einem Tag ergab. Nach fünf Tagen erwarb ich von einem Bauchhändler ein Handy, um meine Angehörigen in Deutschland zu informieren. Am Abend in der Bar lernte ich einen netten Herrn kennen mit der Wartenummer 342. Wir wurden für die nächsten Wochen dicke Freunde.
So verging die Zeit, und man war glücklich, nicht hinaus in den Englischen Regen zu müssen. Allerdings wurde das Leben mit der Zeit sehr mühsam, denn das Geld wurde knapp. Die letzten zwei Wochen konnte ich keinen Pence mehr ausgeben, da mein Geld nur noch für die drei Fahrkarten reichte. Auf der Herfahrt hatten sie je acht Pfund gekostet.
Am 15. September schließlich schnappte die Anzeige auf 183. Ein erhebendes Gefühl. Mit stolzgeschwellter Brust ging ich zum Schalter, wo ich von einem jungen Mann mit Zopf und „Oh, Sie sind ja noch gar nicht verfault“-Gesichtsausdruck bedient wurde.
„Drei Fahrkarten für die Fähre von Ramsgate nach Oostende, bitte!“
„Da müssen sie ins Zentrum für Fähren!“
„Da war vor zwei Monaten und einem Tag die Maschine kaputt!“
„Ach so, einen Moment bitte!“
Der Mann verschwand für geraume Zeit im Nebenzimmer. Dann erschien er wieder und sagte mit einem „Na gut, die erste Runde ging an Sie. Aber sie werden trotzdem verfaulen“-Ton in der Stimme: „So, da haben wir es. Macht dann 56 Pfund.“
„So viel habe ich nicht! Auf der Herfahrt kostete es nur 24 Pfund!“
„Ja, Sie sagen es: auf der Herfahrt. Von England zurück gelten andere Preise. Haben Sie das nicht gewußt? Das tut mir leid.“
Ich starre ihm schweigend ins Gesicht.  Er sagt tröstend: „In der Bank schräg gegenüber hat es einen Geldautomat. Danach kommen Sie einfach wieder, lassen sich eine Nummer geben, und wir sehen, was wir für Sie tun können.“
Mit der festen Absicht, mich bei der nächstbesten Gelegenheit von der Tower Bridge zu stürzen, schleppte ich mich aus dem Saal zum Geldautomaten. Die Dame an der Tür grinste mir freundlich zu, doch ich wußte ganz genau, daß es heißen sollte: „Geben Sie sich keine Mühe. Sie werden so oder so verfaulen.“