www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

   zurück   

Nur-kurz-Kurt

Nur kurz.
Das ist in Deutschland die Umschreibung für „ein Leben lang.“ „Ich bin nur kurz Zigaretten holen“, sagte der Mann und ward nicht wieder gesehen. „Ich leih mir nur mal kurz dein Geld“, sagte der Freund, gründete ein Unternehmen und hieß forthin Herr Doktor.
Ein jeder mag sich also vorstellen, was es für mich bedeutet, „Nur kurz“- Kurt kennengelernt zu haben.
Die Vorgeschichte: „Nur kurz“-Kurt und ich, wir waren beide grün und bildeten die Lokale Agenda-Bewegung in Dortmund. Lokale Agenda 21 kennt außer uns beiden niemand, deshalb sage ich das hier kurz, das heißt also so viel wie Lokale Tagesordnung 21, und das kann man sich fein dadurch merken, daß es immer bis 21 Uhr dauert, bis man die Tagesordnung aufgestellt hat, und danach verteilt man sich in die Lokale.
Inhaltlich soll es irgendwie um ein Dreieck gehen, das alle gesellschaftlichen Strömungen aufgreift, eine Seite heißt „Ökologie“ – und die anderen beiden habe ich vergessen.
Wo zwei Grüne zusammen sind, geht es nicht ohne Rednerliste. Es war an diesem Abend also kurz nach 21 Uhr, so daß wir beiden jetzt endlich ins Thema einsteigen konnten. Laut Rednerliste wäre ich dran gewesen, doch da drängte sich „Nur kurz“-Kurt vor und sage: „Nur kurz, weil wir doch gerade bei Nachhaltigkeit sind. Ich fahre nachher Richtung Hombruch, falls jemand mit möchte.“
Ich mochte, und so beschlossen wir, die Sitzung für heute zu beenden.
Nachdem Kurt nur kurz noch seine Dias sortieren mußte – es ist ja auch in keinster Weise ungewöhnlich, daß jemand zu jeder Gelegenheit seine Dias mitschleppt – saßen wir auch schon eine Stunde später in seinem Wagen.
Kurt fragte fair: „Soll ich dich gleich heim bringen? Sonst könnten wir nur kurz noch auf dieses mittelalterliche Spektakulum hier gleich um die Ecke.“
Ich sagte deutlich: „Lieber gleich heim,“ worauf Kurt sagte: „Gut,“ und den Wagen ans andere Ende der Stadt zum mittelalterlichen Spektakulum steuerte. Mußte wohl an meinem schlechten Deutsch liegen. Oder an Kurts „Nur kurz“-Mentalität.
„Ach, fünf Minuten schaffste noch“, feuerte er mich an.
Ich konnte auch hier mein Ja-Sager-Syndrom nicht unterdrücken, hatte Augenblicke später (will sagen: nach halbstündigem Fußmarsch) einen Zwanni weniger in der Tasche, weil es im Mittelalter offensichtlich üblich war, die Siedlungen mit Bauzäunen abzuriegeln und im einzigen verbliebenen Durchgang sämtliche Handelsreisenden zu überfallen und auszurauben.
Alles in allem bin ich ja auch kein Mittelalter-Hasser, redete ich mir immer wieder ein und bemühte mich redlich, mich für das Leben meiner Vor-vor-vor-vor-und-so-weiter-fahren zu interessieren, denn nur durch diese psychologischen Tricks hielt ich es aus, bis zum Ende des Spektakulums gegen halb vier auszuharren und an Kurts Seite jeden Lederbeutel zu beschnuppern, jeden Barden anzupöbeln, jeden Trunk zu trinken und jeden Fraß zu fressen.
„Hier ist doch einfach der Bär los, war doch gut, daß wir noch kurz vorbei sind“, rechtfertigte sich Kurt, als der letzte wache Veranstalter und ich ihn dann mitten in der Nacht zu seinem Auto zurücktrugen.
Ich dachte, ab nach Hause und eine Satire schreiben, ahnte aber noch nicht, daß ich die letzte Viertel Seite auch noch gefüllt bekommen sollte.
Denn das Spielchen – „Ich stell dir zwei Sachen zur Auswahl und wir fahren dann den weiteren Weg“ – ging unverdrossen weiter. Kurt sagte: „Bist Du eigentlich schon hier lang gefahren?“, ich sagte: „Nein. Ich fahre sonst nie Auto,“ und Kurt sagte: „Dann müssen wir hier – nur kurz – vorbeifahren, das mußt Du mal gesehen haben!“, und so sah ich in dieser Nacht Bordsteine, Laternen, Straßenschilder, und ich fragte mich ununterbrochen: Wie konnte mein Leben bislang Sinn haben, wo mir das alles vorenthalten blieb?
Das Ungeschickte daran war, daß wir uns auf diese Weise immer weiter von bekannten Gefilden entfernten, so daß ich trotz Ja-Sager-Syndrom, zumal im Dunkeln, einfach keinen bekannten Straßenzug entdeckte, weder im Münsterland, noch an der Ems entlang, noch auf den friesischen Inseln.
Ein Segen, daß mein Nachbar einst auf Juist Urlaub gemacht und mir eine nette Postkarte geschickt hatte. So konnte ich unvermittelt ausrufen: „Halt! Das kenne ich!“, worauf „Nur kurz“-Kurt verstimmt murrte: „Das hättste ja wohl auch gleich sagen können! Dann hätte ich dich halt kurz auf dem direkten Weg nach Hause gebracht.“
Was er dann auch tat.
Ich fiel sodann tot ins Bett. Doch leider: Nur kurz.