www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Im Sommer 1992 gewann Dieter Baumann bei den Olympischen
Spielen in Barcelona die Goldmedaille im 5000-Meter-Rennen. Nein, natürlich
nicht er hat sie gewonnen, sondern die Stadt Blaubeuren.
Mit glasigen Augen drängelten sich die Blaubeurer
in der Sporthalle, als ihr Goldjunge zurückkam aus der Stadt seines
Triumphes. Jeder Blaubeurer war gekommen, kein einziger daheimgeblieben.
Man war schließlich Olympiasieger! Die Mädchen kreischten und
die Luft roch nach Schweiß und Erregung, als unser Dieter das winzige
Podium betrat. So, wie man eben einem Nachbarn zukreischt, der soeben den
Olymp bestiegen hat, so kreischten die Mädchen ihm zu. Die Älteren
verdrückten so manche Träne, eben genauso, wie man eine Träne
verdrückt für einen Sohn, einen Nachbarssohn, der gerade ein
Wunder vollbracht hat. Und die Lehrer klopften sich auf die Schultern,
weil sie unseren Dieter unterrichtet hatten, und die ehemaligen Mitschüler
und alle anderen Schüler, weil sie unseren Dieter im entscheidenden
Test hatten abschreiben lassen, und alle Metzger und Bäcker und Supermarktbedienungen,
weil ausgerechnet bei ihnen unser Dieter die nötigen Kalorien für
seinen Kraftakt eingekauft hatte. Und alle anderen jubelten unserem Dieter
zu, um ihm zu sagen, daß er nur deshalb gewonnen hat, weil sie es
waren, die ihm so tapfer vor dem Fernsehschirm die Daumen gedrückt
hatten.
Die Halle fiel kollektiv in Ohnmacht, als unser Dieter
ihr zurief, daß er wisse, wo er seine Wurzeln habe, und daß
er seine Heimat nie vergessen werde. Zum Abschluß gab es ein gigantisches
Feuerwerk.
Unsere ganze Stadt feierte tagelang ihren Triumph. Die
Sporthalle wurde in „Dieter- Baumann-Halle“ umgetauft, die Bäcker
verkauften „Dieter-Kuchen“ und im Sportgeschäft lief tageintagaus
das Video von Uns-Dieters Zieleinlauf. Ein jeder Bürger hatte erkannt,
im Paradies auf Erden zu wohnen, gescheiterte Ehepaare fanden wieder zusammen,
zerstrittene Nachbarn wurden die besten Freunde, die Sonne schien Tag und
Nacht, und die Bodenpreise schnellten in die Höhe. Ein glücklicheres
Leben als das als Blaubeurer konnten wir uns gar nicht vorstellen.
Dann zog Herr Baumann um nach Herrlingen.
Drei Tage lang war die Stadt wie ausgestorben. Die Menschen
trugen schwarz, die Ehepaare und Nachbarn zerstritten sich wieder, das
Sportgeschäft blieb auf den Autogrammen eines gewissen Herrn Baumanns
aus Herrlingen sitzen, und der Nebel kehrte zurück ins Tal. Wer nach
Ulm wollte, nahm einen Umweg in Kauf, um nicht durch Herrlingen, dieses
Verräterkaff, das uns den Olympiasieg gestohlen hatte, fahren zu müssen.
In solchen Situationen tritt ein Prozeß in Kraft,
den die Psychologen Verdrängung nennen.
Das Leben war wieder trist wie eh und je. Wir wußten
zwar noch, daß es einmal anders gewesen war, aber wir wußten
nicht mehr, warum. Ab und zu las man in der Zeitung noch etwas von diesem
Herrn Baumann aus Herrlingen, zum Beispiel von seinem kläglichen neunten
Platz bei den Weltmeisterschaften oder von der einen oder anderen üblen
Verletzung. Doch man pflegte nicht darüber zu sprechen.
Doch ab und zu, allerdings ganz selten, und wenn wirklich
nichts Brauchbares im Fernsehen kommt, dann kriechen wir Blaubeurer heimlich
auf unsere Bühnen, kramen unsere verstaubten Tagebücher
hervor, und schlagen die vergilbten Seiten aus den alten Tagen wieder auf.
Und dann erinnern wir uns an unseren Dieter und unseren Olympiasieg und
bekommen dieselben glasigen Augen wie damals und wünschen nichts sehnlicher,
als daß der Herr Baumann aus Herrlingen nach Blaubeuren zurückkehrt
und wieder unser Dieter wird.