www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Ordnungsfieber

Einer der größten Fehler der Deutschen ist ihr Hang zur absoluten Ordnung. Doch die Ordnung hat einen Haken. Sie endet zwangsläufig im Chaos.
Es begann an dem Tag, an dem ich Sofies Welt zu Ende gelesen hatte. Ich klappte das dicke Buch zu und wollte es ins Bücherregal zurückstellen. An der Stelle, an der es früher gestanden hatte, bei G wie Gaardner, war noch eine Lücke zu erkennen. Ich schob das Buch hinein – das heißt, ich versuchte, es hineinzuschieben, denn irgendetwas klemmte. Aber hier war es doch gestanden! Ich drückte heftiger. Die Lücke war offensichtlich zu eng. Warum paßte es plötzlich nicht mehr hinein?
Natürlich: Ich hatte auf dem Flohmarkt das kleine Büchlein „Wie bin ich erfolgreich“ erstanden und es zu T wie Tips gestellt. Jetzt plötzlich war das Regal zu kurz. Ich mußte einen Buchstaben aussortieren.
Bei Z standen vier Bücher. Die stellte ich ein Regal tiefer, dafür nahm ich die alten Zeit-Magazine heraus. Die aber wollte ich behalten. Ich tauschte sie gegen die Briefmarken- und Fotoalben. Jetzt war an der Stelle im Regal zu viel Platz übrig. Ich konnte die Fotoausrüstung umpositionieren. Dann konnte ich hier die Arzneimittel hintun und dort die Sportzeitungen.
So wurstelte ich noch eine Weile hin und her, nahm schließlich den Meterstab zu Hilfe, maß alles akkurat aus, stellte die Sachen planmäßig zurück und hätte heulen können. Da konnte ja kein Mensch hinsehen! Auf dem mittleren Regal waren alle Bücher von A bis Y aufgeführt, und im Regal darunter standen die vier Bücher mit Z. Das sah eklig aus. Ich mußte versuchen, die Regale gleichmäßig zu besetzen. Diesmal ging ich systematisch vor und maß gleich alle beteiligten Einheiten aus. Die ganzen Sachen stellte ich derweil aufs Bett oder auf den Boden. Die Nacht verbrachte ich im Schlafsack auf dem Wohnzimmerboden.
Am nächsten Morgen räumte ich das Regal neu ein, und zwar nach einem ausgeklügelten System. Wunderbar waren nun die Bücher in drei Reihen untereinander eingereiht, die Zeitschriften waren bei den Zeitschriften, die Alben bei den Alben. Nach einem Tag harter Arbeit betrachtete ich stolz mein Werk, das zu aller Schönheit auch noch symmetrisch angelegt war.
Ich wollte mich genüßlich ins Bett fallen lassen und schrie auf. Ich war auf etwas hartes gefallen – der Pokal! Ich hatte den Pokal vergessen! Wie konnte das nur passieren? Der Pokal mußte natürlich gut gesehen werden. Schließlich hatte ihn sich mein Fußballteam hart erkämpft.
Der Pokal gehörte in die Mitte. Ich entfernte einige Bücher zwischen K und L und stellte den Pokal in die Lücke. Wie er nun wirkte! Und was mit den Büchern? Das Spiel begann von vorn. Bücher gleichmäßig auf drei Regale verteilen, Fotoausrüstung umlegen, Kosmetika aufteilen, Zeit-Magazine dazwischenlegen, alles zwanzig Zentimeter nach links. Es scheinte alles zu passen, dann hielt ich nur noch den Reisewecker in der Hand. Es war kein Platz mehr. Und nun?
Ich begann, sämtliche Regale meiner elterlichen Wohnung auszumessen. Das in der Küche hatte genau die richtige Länge. Dafür hatte es einen Nachteil: Es war ein Einbauregal.
Da meine Eltern im Urlaub waren, wagte ich das Experiment. Ich sortierte meine Sachen in der Küche ein, und die Gewürze & Co., die sich etwas stauchen ließen, kamen in mein Zimmer, dann sortierte ich die zugehörigen Möbel um - nur wollte dann die Tür in meinem ehemaligen Zimmer nicht mehr zugehen, da die Spülmaschine zu weit vorstand.
Also nahm ich wieder den Meterstab und maß die Zimmer aus, rechnete und machte Pläne. Schließlich hatte ich die perfekte Lösung: Die Küche wurde ins Schlafzimmer meiner Eltern verlagert, das Schlafzimmer ins halbe Wohnzimmer, das halbe Wohnzimmer ins Arbeitszimmer und das Arbeitszimmer schließlich in die Garage. Nach meinen Messungen müßte der Wagen genau in mein altes Zimmer passen – vorausgesetzt, der Beifahrer steigt vorher aus.