www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
In Philosophie behandeln wir derzeit die Frage der Erkenntnis.
Die Erkenntnis derer, die Philosophie gewählt haben, ist: Philosophie
hätte ich besser nicht gewählt.
Ein kurzer Blick in den laufenden Unterricht wird das
belegen – wir beginnen links und schauen reihum, was die Schülerinnen
und Schüler so treiben.
Die erste Schülerin stützt ihren Kopf in die
Hand und ist geistig abwesend.
Die zweite Schülerin hält die Hand ihres Freundes
und ist geistig abwesend.
Der erste Schüler hält die Hand seiner Freundin
und ist geistig abwesend.
Der zweite Schüler ist geistig bei dem Brief, den
er an seinen Klassenkameraden, seinen Leidensgenossen, schreibt.
Der dritte Schüler stützt seinen Kopf in beide
Hände und ist geistig bei dem Brief, den sein Nebensitzer an seinen
Klassenkameraden, seinen Leidensgenossen, schreibt.
Die dritte Schülerin kaut an ihrem Stift, schaut
gequält zur Decke und ist geistig abwesend.
Um den Leser nicht zu sehr zu langweilen, machen wir
hier einen kleinen Sprung. Diese Möglichkeit bietet sich beim Schreiben
gottseidank, ein Besucher des Philosophieunterrichts hat diese nicht.
Der siebente Schüler ißt seine Arbeit auf
und ist geistig bei der Tatsache, daß auf der Rückseite des
Blattes giftige Bleistiftspuren sind.
Sprung.
Der neunte Schüler stützt den Kopf auf die
Faust und ist geistig bei dem Brief, den sein Klassenkamerad, sein Leidensgenosse,
ihm gerade schreibt.
Der zehnte Schüler hat den Kopf in die Hand gestützt
und ist geistig abwesend. Die siebente Schülerin hat den traurigen
Kopf in beide Hände gestützt und ist geistig abwesend.
Der geneigte Leser wird langsam – zurecht – einwerfen,
das sei nicht lustig, aber was soll ich machen: so ist Phiosophieunterricht.
Der elfte Schüler hat die Hand erhoben und setzt
an, um zu sagen, daß kopernikeisch die These von der aprioischen
expositio des Raumes nur schwer mit der transzendenten Implikation des
postmodernen Verstandes der Mythologen zu syntheieren sei.
Der Lehrer antwortet darauf, daß er daran noch
gar nicht gedacht habe, überdies schlecht vorbereitet sei, ein ichtiges
Blatt vergessen habe und doch lieber mit der Biographie Kants fortfahre.
Der sechste Schüler schreibt in sein Satire-Ideen-Buch
„Philosophie-Unterricht“ und sagt zu seinem Nebensitzer, um seine dem elften
Schüler in nichts nachstehende humanistische Bildung unter Beweis
zu stellen: „Marcus currit.“
Die erste Schülerin stützt ihren Kopf in die
Hand und ist geistig abwesend.
Die zweite Schülerin hält die Hand ihres Freundes
und ist geistig abwesend.
Der erste Schüler hält die Hand seiner Freundin
und ist geistig abwesend.
Wer auf eine Steigerung auf einen Höhepunkt hin
wartet, wartet vergebens. Es gibt keinen. Allenfalls es klingelt. Aber
so lustig ist das auch nicht. So ist dieser einschläfernden Tragik
nicht zu entkommen.
Der zweite Schüler ist geistig bei dem Brief, den
er an seinen Klassenkameraden, seinen Leidensgenossen, schreibt.
Halt. Ausgerechnet in dieser Stunde gibt es doch noch
einen Höhepunkt. Auf einen Schlag sind alle Schülerinnen und
Schüler hellwach. Was ist geschehen? Der Lehrer hat erzählt,
daß Kants Diener soff.
Doch das war ein kurzer Höhepunkt.
Der dritte Schüler ist geistig bei dem Brief, den
sein Nebensitzer an seinen Klassenkameraden, seinen Leidensgenossen schreibt.
Die dritte Schülerin kaut an ihrem Stift, schaut
gequält zur Decke und ist geistig abwesend.
Dann endlich: Ohne beim Lesen auch nur einmal gelacht
zu haben, sind wir erlöst. Es klingelt. Die Satire in Moll ist zu
Ende.