www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Die ‘braven’ Männer in unserer Gesellschaft – also
die linken, sozialen, pädagogischen, theologischen – haben fast immer
einen Bart. Bisher schweig sich die soziologische Forschung über dieses
Phänomen aus. Ich aber nenne nach einem jahrelangen Selbstversuch
den Grund: Rasieren und das Streben nach Gerechtigkeit verträgt sich
nicht!
Jeden zweiten Morgen gehört zu meiner Morgentoilette
die Gesichtsrasur, sonst protestiert meine Freundin. Wenn die wüßte,
mit welchen Belastungen das verbunden ist! Darum schleppe ich mich an diesen
zweiten Tagen immer besonders unmotiviert ins Bad. Ich weiß schon
im Voraus, daß es wieder ein ernüchternder Prozeß sein
wird, aus dessen festgelegten Riten ich allerdings nicht fähig bin
auszubrechen.
Erster Schritt: Gesicht naßmachen. Gewöhnlich
eine Wonne. Hingegen nicht, wenn man schon weiß, was als nächstes
kommt.
Zweiter Schritt: Rasiercreme auftragen. Ich nehme – wie
es die Verpackung empfiehlt – ein nußgroßes Stück und
drücke es auf die linke Backe. Und wie jeden zweiten Morgen habe ich
damit den ersten Fehler begangen. Denn sofort beginnen wieder die quälenden
Fragen an die Oberfläche zu dringen: Warum eigentlich immer die linke
Backe zuerst? frage ich mich und finde keine Antwort. Warum kann ich nicht
auch mal an einer anderen Stelle beginnen? Die Macht der Gewohnheit beginnt
sich mit dem Sinn nach Gerechtigkeit zu zanken. Und dieser Streit wird
meine weitere Rasur begleiten.
Dritter Schritt: Rasiercreme mit Pinsel zu Schaum schlagen.
Während dieser Tätigkeit ahne ich schon, daß es mir wieder
nicht gelingen wird, allen Partien meines Gesichts gerecht zu werden. Wieder
hatte ich zu wenig Rasiercreme genommen, wieder an der selben Stelle begonnen,
wieder wird der Rasierschaum nicht in gleichen Teilen für alle meine
Gesichtszüge ausreichen. Aber ich war wieder zu geizig und zu bequem,
um einfach mit mehr Rasiercreme zu beginnen.
Vierter Schritt: Mit dem Finger die Schaummenge ausgleichen.
Auch wenn ich wie jeden zweiten Morgen versuche, das Unheil noch einmal
abzuwenden, indem ich mit dem Finger auch die chronisch benachteiligten
Partien mit etwas Schaum versorge, bin ich zu diesem Zeitpunkt einmal mehr
äußerst unzufrieden mit mir, zweifle an meiner sozialen Ader,
meinen gesellschaftlichen Ansichten und meiner integrativen Stärke.
Denn: Schon wieder haben die oben (an den Wangen) alles und die unten (am
Hals) nichts. Wieder dieses Dilemma. Ich weiß bereits, daß
die Klinge wieder aalglatt über die Wange gleiten wird, während
ich im Halsbereich ein unangenehmes Kratzen aushalten werden muß.
Dabei hätte es doch in meiner Macht gestanden, den
Schaum anders zu verteilen. Ich alleine habe diese schreiende Ungerechtigkeit
zu verantworten. Doch ich bin zu schwach, unflexibel und habe Angst vor
jeder Art von Veränderung. Dabei predige ich doch für die Politik
immer das genaue Gegenteil! Das sind dann die Momente, in denen das Selbstvertrauen
auf ein Minimum zusammensackt.
Fünfter Schritt: Rasieren. Doch diesmal will ich
mich aus dem Teufelskreis befreien! Diesmal werde ich mich nicht wieder
meinem eigenen Diktat beugen. Diesmal werde ich die Klinge wenigstens an
einer benachteiligten Stelle ansetzen, damit der Schaum dort noch nicht
angetrocknet ist und dadurch noch eine gewisse, wenn auch nicht große
Gleitwirkung besteht. Ich fuchtle wild mit dem Rasierer hin und her, stehe
vor einer inneren Zerreißprobe, kämpfe mit mir und dem Gerät
– und setze es wie immer rechts oben an.
Ein wohliges Gefühl der Zufriedenheit überströmt
mich. Es ist einfach schön, nach festen Vorgaben leben zu können.
Leider schlägt dieses Wohlgefühl im Laufe des
Tages wieder um, verwandelt sich in zermürbende Selbstvorwürfe
und tiefe Verzagtheit. Die Schrammen am Hals werden mich auch noch ein
paar Tage begleiten, und ich werde die nächste Rasur wieder genau
so fürchten, wie all die Rasuren zuvor.
Die Rasur drückt auf die Grundstimmung. Das Leben
ist ein Hundeleben. Und ich weiß nicht, wie ich’s meiner Freundin
sagen soll.
Ein winziger, klitzekleiner Trost bleibt indes: Ich weiß
endlich, kann mir endlich erklären, warum die ‘braven’ Männer
lange Bärte haben.