www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Resozialisierung

Einmal ein Knasti, immer ein Knasti. So lautet ein beliebtes Sprichwort. Doch es stimmt nicht mehr ganz, neuerdings heißt es: Heute ein Knasti, morgen ein Boxer.
Wie ich Mike kennengelernt habe, weiß ich nicht mehr genau, Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihn eines Morgens betrunken in meinem Garten aufgelesen, wenig
später mag die Polizei gekommen sein und ihn mitgenommen haben - vier Jahre wegen Vergewaltigung. Keine schöne Sache, gewiß. Ich habe Mike dennoch nicht mehr fallengelassen.
Am Tag nach seiner Entlassung stand Mike plötzlich vor meiner Haustür und sagte: „Hey, ich will, daß Du mich resitierst!“
Einige Zeit später, als Mike schon bei mir eingezogen war und schnarrchte und dann und wann die Wohzimmergarnitur zertrümmerte, bekam ich heraus, daß er ‘resozialisieren’ gemeint hatte. Ich sollte ihn also wieder in die Gesellschaft integrieren.
„Mike“, sagte ich eines Morgens, „such’ dir einen Job! Verdiene Geld! Miete eine Wohnung!“
Mike fand keinen Job und keine Wohnung und verdiente kein Geld. Ich schickte ihn zu den Kirchen und Sozialstationen, aber Mike fand keinen Job, der für ihn geeignet war. Die Enttäuschung darüber ließ er an meiner Einbauküche oder meiner Eisenbahnanlage aus.
Daß das nicht so weitergehen konnte, ist nicht schwer zu verstehen. Eines Tages dann entdeckte ich in der Zeitung eine Anzeige, die mir wieder Hoffnung machte:

Resoz. Coorporation
Der neue Weg der Resozialisierung

Ich ging mit Mike dort hin. Der junge Mann im Sakko, der uns empfing, war bei Mikes Anblick von den Socken. Strahlend begrüßte er meinen schmuddeligen, stinkenden, unrasierten, aber bullig und stark wirkenden Klienten.
„Wir haben nur ein einziges Programm zur Resozialisierung,“ begann der Mann seinen kurzen Vortrag. „Entweder, sie steigen darauf ein oder nicht.“
Dann begann er, seine Idee vorzustellen, versprach beste soziale Kontakte, Firmenwagen mit Chauffeur, eine gewisse Berühmtheit und eine Jahresgage von 35 Millionen Mark.
„Und was muß Mike tun?“, fragte ich skeptisch. „Es ist doch legal, oder?“
„Völlig legal.“

Drei Wochen später stieg Mike das erste Mal in den Ring. Sein Gegner, Bruce McKincey, ein Schotte, saß dreieinhalb Jahre wegen bewaffnetem Raubüberfall. Mike mußte ihn nur scharf ansehen, und Bruce ging zu Boden. K.o. in der ersten Runde nach 37 Sekunden. Die Zuschauer feierten Mike und beschimpften Bruce, und Mike gewann Gefallen an seiner Resozialisierungstätigkeit.
Zwischendrin mußte er für ein paar Fotos Modell stehen und freute sich, als er sich auf großen Plakaten in der Stadt entdeckte.
Als nächste Gegner bezwang Mike einen Totschläger in minderschwerem Fall, einen Junkiee auf Bewährung und schließlich in seinem bislang härtesten Kampf einen 29jährigen Hooligan aus der Berliner Szene.

Inzwischen ist alles eingetreten, was uns der Mann in dem Büro prophezeit hatte. Mike ist ein berühmter Boxer geworden. Heute Nacht kämpft er in New York um die Krone in der WBA Weltmeisterschaft. Und die Chancen stehen nicht schlecht. Denn sein Gegner saß nur zwei Jahre wegen Kindesmißbrauch. Und da meinten die Wettbüros, die Vorteile stünden eindeutig auf Mikes Seite.
Mein Herz hängt ganz klar noch immer an ihm. Und das Schönste ist: Er hat mich auch jetzt, nachdem das Resozialisierungsprogramm so gut funktioniert hat, noch nicht vergessen. Zumindest habe ich das Gefühl, daß er jedesmal, wenn er in die Kamera grinst, nur mich angrinst.