www.albrecht-reuss.de | Stand: 23.04.2017 | Impressum
Respekt zu haben heißt, den andern so zu sehen, wie er gerne wäre. Ein jeder Arbeitnehmer wünscht sich wohl einen Chef, der einen angemessenen Respekt vor seinen Mitarbeitern hat. Das Dumme ist nur, dass noch keiner von einem Chef gehört hat, der aufgrund großen Respekts Karriere gemacht hat. Die meisten haben es aufgrund großen Fleißes geschafft.
Bertram war mit Sicherheit nicht der fleißigste aller Rathausmitarbeiter, und er hatte dementsprechend auch noch nie seinen Posten als technischer Zeichner für höhere Aufgaben verlassen. Aber er hatte andere Stärken, die er in den Dienst der Stadt stellte, wie etwa das Aushorchen aller möglichen wichtigen Leute in ganz Wappenstadt. Sein Chef Schaffter, fleißig wenn es darauf ankam, hätte lieber lauter kleine Schaffters als Mitarbeiter gehabt, die fleißig waren, wenn es darauf ankam. Denn darin kannte er sich aus. Alles andere war ihm fremd.
Schaffter verwendete erheblichen Eifer darauf, all seinen Mitarbeitern, die einmal kleine Schaffters werden sollten, respektvoll klar zu machen, dass sie derzeit noch kleine Nieten waren und sich noch immens anstrengen mussten, um einmal kleine Schaffters zu werden.
Moderne Chefs versuchten ihre Philosophie in Personalgesprächen zu vermitteln, Schaffter hingegen nutzte hierfür jede Besprechung, insbesondere deren pünktlichen Beginn.
Montags um halb zehn war die wöchentliche Dienstbesprechung. Bertram erschien wenige Minuten später, da er in der Kantine beim Kaffeeholen noch schnell den Kollegen Meier mit seinen Kontakten zur örtlichen Bank bespitzeln musste, um der Stadt Millionenverluste zu ersparen. Er entschuldigte sich beim Betreten des Raumes, und Schaffter nannte ihn sogleich einen Taugenichts und rechnete ihm vor, wie viele Kollegen nun wie viele Minuten uneffektiv rumsaßen und was das den Steuerzahler koste, und im Übrigen verlange es der gegenseitige Respekt, dass sich alle, er betone alle, an die gleichen Regeln hielten und während der internen Besprechungen andere Kontakte hintanstellten.
Wenige Augenblicke später wurde er von der Sekretärin ans Telefon gerufen und verschwand für eine halbe Stunde.
In dieser Zeit beschloss Bertram, eine Zeit lang pünktlich zu Besprechungen zu erscheinen, um den Frieden im Hause nicht unnötig zu gefährden.
Was ihm misslang.
Am Dienstag war um 14 Uhr eine Besprechung eingetragen. Als Bertram um 13.55 Uhr aus der Kantine zurückkehrte, wo er wichtige Informationen über die neuesten Förderprogramme gesammelt hatte, war in seinem Rechner der Termin auf 13.45 Uhr vorverlegt worden, weil Schaffter kurz nach zwei für eine wichtigere Besprechung in den Golfklub musste.
Der nannte Bertram eine Beleidigung für seine Augen und die Besprechung nutzlos und obsolet und es im Übrigen sehr traurig, dass dadurch nun vermutlich das Projekt um Monate verzögert würde, und Bertram sei schuld, sei schuld, sei schuld.
Zu einer am Mittwoch eingetragenen Besprechung erschien Bertram sicherheitshalber zehn Minuten früher, also um 9.50 Uhr. Dadurch bekam er leider nicht mit, dass die Besprechung um 9.55 Uhr von Schaffter wegen eines wichtigen Telefonats um eine halbe Stunde nach hinten verschoben wurde, so dass er um zwanzig nach zehn vermutete, die Besprechung falle aus, und in sein Büro verschwand. Um vierzig nach zehn wurde er in das Büro seines Chefs gerufen und von ihm als der Untergang der Stadt, die Karikatur eines technischen Zeichners, und – so leid es ihm auch tue – als hoffnungsloser Fall bezeichnet. Und wenn er diese Woche noch eine Besprechung verpasse, denke er über ernsthafte Konsequenzen nach.
Am Donnerstag saß Bertram bis um 14.29 Uhr vor seinem Rechner, um ja keine Verlegung der Besprechung zu verpassen, die um 14.30 Uhr beginnen sollte. Sogleich hechtete er aus seinem Zimmer, überrannte die Sekretärin im Gang mitsamt ihrem Aktenstapel, schlitterte an der Treppe um die Kurve, rutschte aus und grätschte dabei einen Blumenkübel um, rappelte sich seramisbestreut auf und rannte die 17 Stufen nach oben, wobei er immer zwei auf einmal nahm und beim achten Schritt folgerichtig ins Leere trat, das Gleichgewicht verlor, in die Glastür krachte, so dass seine Schulter zu Mus und das Glas zu Milchglas wurde, um nach einem letzten Satz mit schmerzverzerrtem Gesicht um 14 Uhr 29 und 56 Sekunden den Besprechungsraum zu erreichen.
Dort hing ein Zettel mit der Aufschrift: »Besprechung heute direkt auf der Baustelle, bitte vorher den Ordner A bis K einmal durchkopieren.«