www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Die Rot-Grün-Schwäche

Es gibt in unserem Kulturkreis nicht wenige Menschen mit einer Sehschwäche, was Rot- und Grüntöne betrifft. Einer davon bin ich. Nicht, daß dieser Umstand mir Probleme bereiten würde. nur meinem Umfeld bereitet er sie.
An dieser Geschichte zeigt sich auch nebenbei, daß sich Autofahren rächt – ich hätte nie den Führerschein machen dürfen und erst recht nicht den roten Wagen meiner Eltern benützen. Ich benutzte ihn, als ich mit den drei Brüdern Jim, Tim und Tom der Familie Daskönntejederdernormalsehendensein nach Stuttgart ins Stadion fuhr. Etwa drei Kilometer vor dem Aichelberg kamen wir auf die Vereinsfarben des VfBs – der schwäbischen Fußballgröße mit politikgesponserten Anzeigetafeln – und des SV Werder Bremens zu sprechen. Die Bremer haben die Vereinsfarben grün-weiß, spielen aber anscheinend seit dieser Saison in roten Trikots.
Ich sagte dummerweise: „Die grünen Trikots mit den weißen Ärmeln haben mir noch nie gefallen“, worauf sich die anderen mit einem Schlag in entsetztes Schweigen hüllten und nur noch die alte, schadhafte Servo-Pumpe unseres Wagens zu hören war. Es war nur eine Sekunde, die mir wie eine Ewigkeit vorkam. In der Zwischenzeit ahnte ich schon Böses, verglich in rasender Eile im Geiste die Trikots der Bremer vom letzten Jahr mit denen von diesem Jahr, verglich diese wiederum mit Hilfe meines annähernd fotografischen, doch leider farbengestörten Gedächtnisses mit den T-Shirts anderer Vereine, von denen ich sicher wußte, daß sie in Rot spielten, und kam zu dem Schluß, daß die Bremer in dieser Saison wohl die Trikotfarbe gewechselt haben mußten, und schon schallte mir aus allen drei Kehlen meiner Mitfahrer ein kreischendes „Hä?“ entgegen, so vorwurfsvoll, als hätte ich Jim Morrison eben zum Deutschen Bundespräsidenten erklärt.
„Die spielen doch schon Ewigkeiten nicht mehr in grün!“, erläuterte Jim seinen Unmut. „Sag mal: Hast du das nicht bemerkt?“
„Doch, schon“, stammelte ich, und um die Situation zu entwirren, begann ich zu erklären, was sich als unverzeihlicher Fehler herausstellen sollte.
„Ich habe eine leichte Rot-Grün-Schwäche“, begann ich, „aber das ist nichts Schlimmes. Nur manchmal sehe ich eben Rot als Grün oder Grün als Rot, oder brauch zumindest eine Weile, bis ich die Farben entschlüsseln kann.“
Hätte ich den Blick nicht auf die Straße gerichtet, hätte ich in drei Gesichter geblickt, die sich im fragenden Ausdruck gegenseitig zu übertreffen versuchten. Wenig später setzte dann ein fröhliches Farben-Ratespiel ein, welches ich immer in solchen Situationen zu spielen habe und auf den Tod nicht ausstehen kann.
„Welche Farbe hat dein Auto?“, fragte Tom, und ich antwortete routiniert und mit einem ordentlichen Überlegenheitsgefühl in der Stimme: „Rot.“
‘Richtig’, höre ich die anderen denken.
„Welche Farbe hat dein Schal?“
„Schwarz.“
„Ich meine: die Schrift?“
„Rot“
„Und meiner?“
„Auch Rot.“
„Die Schuhe?“
„Braun - glaube ich. Ich muß auf die Straße schauen.“
„Der Opel vor dir!“
„Hmm - Grün.“
„Du siehst doch gar nicht schlecht,“ sagte Tom in einem Ton, als hätte soeben ein Blinder das Sehen erlernt, und ging über in Phase zwei des Annäherungsprozess es an die Krankheit namens „Rot-Grün-Schwäche“.
Er fragte: „Wie siehst du dann eigentlich die Farben? Alle grau? Oder braun? Oder gestreift, kariert, gepunktet?“
„Nein,“ holte ich aus zu meinem mittlerweile auswendiggelernten Erklärungsmodell, „ich sehe eigentlich ganz normal – glaube ich zumindest. Ich weiß ja auch nicht, wie ihr seht. Ich sehe auch alles farbig und bunt. Ich sehe auch bestimmte Farben grün oder braun oder rot. Nur manchmal eben rot statt grün oder andersherum.“
Phase zwei bringt gewöhnlich ernsthaftes Interesse an der Thematik mit sich.
„Und welche Farben genau siehst du dann falsch?“, bohrte Jim weiter.
Ich vertraute ihm wohlwollend mein Geheimnis an: „Ich weiß es nicht. Ich denke, es hängt mit der Intensität zusammen. Ganz dünne Striche kann ich am schwersten auseinanderhalten. Oder sehr helle Leuchtschriften.“
Jim, Tim und Tom zuckten zum zweiten Mal zusammen. Jetzt begann die dritte Phase, das Sorgenmachen.
„Und was ist mit Verkehrsampeln?“, platzte es aus ihnen heraus.
„Überhaupt kein Problem“, beruhigte ich. „Da sehe ich erstens, wo es leuchtet, und außerdem ist das doch gar kein richtiges Rot oder Grün.“
Ich schien sie nicht überzeugt zu haben. Denn nun gingen sie über in eine zweite Testphase unter der Überschrift: „Mache den kleinsten Fehler und du bist deinen Führerschein los!“
Ich hielt mich wacker, beantwortete völlig korrekt die Farben der Wiese, des Golfs, des Kadetts, des Lasters, des Baums, des Pullis der Tramperin, des Kanaldeckels, verchiedener Laub- und Nadelbäume, diverser Wahlplakate, und selbst die Digitalanzeige der Autouhr erkannte ich in Höchstform als „Hellrot-Orange“.
Inzwischen befanden wir uns mitten im Stadtverkehr, und meine Nerven waren angespannt wie die G-Saite meiner Gitarre, die ich in der Woche zuvor drei Mal neu aufgezogen hatte..
Dann geschah das Verhängnisvolle.
„Wie war doch gleich deine Wagenfarbe?“, höhnte Tim, als die Ampel vor mir zufällig gerade auf Grün schaltete, und ich sagte in der Verwirrung kurz: „Grün.“
„Aah!“, schrien meine drei Freunde auf, als käme uns in dem Moment ein LKW auf unserer Fahrspur entgegen.
„Laß uns aussteigen! Wir wollen raus! Wir gehen zu Fuß! Mit dir fahren wir nicht mehr! Hilfe! Polizei! Wir werden entführt“, kreischten sie wild durcheinander und ließen sich von mir in keinster Weise wieder beruhigen. Wie soll man einer hysterischen, in panik geratenen Gruppe Heranwachsender erklären, daß man vom Augenarzt amtlich bescheinigt hat, genügend zu sehen, und daß in diesem konkreten Fall nur ein winzig kleiner Versprecher vorlag?
„Stooop“, röhrte es vom Rücksitz, 200 Meter vor der nächsten Ampel, die gerade gelb wurde.
„Haaalt“, brüllte es mir auch ins Ohr, als ich soeben zum Bremsen ansetzte, da ein Herr in rotem Sakko den Zebrastreifen überqueren wollte. Mein Auto glich einem Affenkäfig.
Als ob sie nicht gewußt hätten, daß ein Mensch die Eigenschaft besitzt, zum Wahnsinn getrieben werden zu können, trieben sie die Tragödie auf die Spitze.
Vor der nächsten Ampel zog Tim vom Beifahrersitz aus unvermittelt die Handbremse, so daß ich schon die Stoßstange des roten Käfers hinter mir in meinem Nacken hängen sah.
Tom öffnete das Fenster und schrie hinaus: „Vorsicht! Blinder am Steuer!“
Jim leistete seinen Beitrag, in dem er seinen Fan-Schal zu einem stilisierten Galgenstrick zusammenknotete und immer, wenn wir an der Ampel warteten, vor den Passanten den Sterbenden mimte und dabei vehement auf mich deutete, als wäre ich dabei, ihn umzubringen.
‘Wenn er es unbedingt will...,’ dachte ich vor der nächsten Kreuzung, als kein anderes Fahrzeug vor mir war, bildete mir ein, ich sähe ein Grün, hielt permanent meine fünfzig, ließ mich nicht von dem Gejaule meiner Kumpels ablenken, auch nicht vom Hupkonzert der anderen Verkehrsteilnehmer, und fuhr wie durch ein Wunder unbehelligt über die Kreuzung, als wäre das das Normalste der Welt.
Doch dann zog Tim wieder die Handbremse, der Wagen drehte sich auf zum Teil schneeglatter Fahrbahn, prallte gegen einen Pfeiler und drehte sich auf den Rücken. Wie das gehen sollte, weiß ich nicht, aber im Fernsehen sieht man das ja auch ständig.
Nachdem sich das Auto ausgeschaukelt hatte und  wir realisiert hatten, was geschehen war, hingen wir benommen in den Gurten, trauten uns nicht, unsere Glieder zu bewegen – nur reden konnten wir noch.
„Farbe der Uniform?“
„Grün.“
„Farbe des Kreuzes auf der weißen Jacke?“
„Rot.“
„Farbe der Infusionsflasche?
„Rot. Nein, Grün. Braun? Grau? Scheiße.“