www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Ruhrpottrührstück

Mein Leben ist von Zerrissenheit geprägt. Bin ich im Ruhrpott, will ich nicht nach Schwaben. Bin ich in Schwaben, will ich nicht in den Ruhrpott. Äußere Umstände zwingen mich mitunter trotzdem zu einem Ortswechsel. Mit unkalkulierbaren Folgen. In einer ungewöhnlichen Kurzschlussreaktion habe ich während meines letzten Schwabenaufenthalts mal eben so mein Zimmer im Ruhrpott gekündigt. Ich wollte nicht mehr in den Ruhrpott. Jetzt musste ich allerdings noch irgendwie meine Möbel nach Schwaben kriegen und musste zu diesem Zweck erneut den Ruhrpott aufsuchen. Was dann passierte, kann sich jeder leicht ausmalen. Ich wollte nicht mehr nach Schwaben. Aber mein Nachmieter Daniel wollte in mein Zimmer.
Ich reagierte, wie ich es mir in langen Jahren von einem meiner lieben Mitbewohner abgeschaut hatte: mit innerer Ruhe. Ich genoss folglich mein Zimmer in jeder noch verbleibenden Sekunde, bei jedem Einatmen und bei jedem Ausatmen. Gewiss gehört zu dieser Art des meditativen Genießens kein Kofferpacken, kein Ausmisten und kein Möbelrücken dazu. So war ich gerade dabei, die Blättchen meiner Fensterblume zurechtzuzupfen, als das dumpfe Dröhnen unserer „Klingel“ mich aus allen Träumen riss. Daniel!
Ich hastete aus dem Zimmer, schlug die Tür hinter mir zu und vermisste zum ersten Mal überhaupt die Möglichkeit, mein Zimmer durch Abschließen vor fremdem Zugriff zu schützen. Also musste Diplomatie herhalten.
„Ich, ich“, stotterte ich Daniel freundlich ins Gesicht, „ich, ich muss nur noch eben die Wände streichen.“
„Aber das kann doch auch ich machen!“
„Nein, nein, die sind so schmutzig hinter den Schränken hervorgekommen, das kann ich Dir nicht antun! Komm doch einfach heute nachmittag nochmal vorbei. Okay?“
Das „Okay“ gelang mir angesichts der unzähligen Kisten und Taschen, die Daniel bereits im Schlepptau hatte, nicht gerade überzeugend. Doch Daniel ist ein würdiger Nachmieter für mich und gab sofort nach. Er verzog sich lächelnd und riet mir noch, mir ruhig Zeit zu lassen.
Und wie! Ich lehnte mich gleich als der erste Schreck überwunden war, seufzend in mein Sofa zurück und setzte das Genießen fort. Ach, wie schön es hier war! Einatmen. Freuen. Ausatmen. Freuen.
Irgendwann am frühen Abend gab es ein Erdbeben. Zum Glück stellte es sich im Nachhinein nur als ein erneutes „Klingeln“ heraus.
Für mich kam das im Wesentlichen auf das selbe heraus. Ich musste Daniel wohl oder übel erklären, dass er noch eine Nacht in der Jugendherberge ausharren musste, da die Farbe noch nicht trocken war.
Am anderen Tag sah ich mich zu einem ersten kleinen Eingständnis gezwungen. Als Daniel beteuerte, der Geruch frischer Farbe würde ihm nichts ausmachen, musste ich ein kleines Horrorszenario entwerfen, was das Aussehen des Zimmers anging, um ihn vom Betreten abzuhalten.
„Ehrlich gesagt, ich hab noch ein paar Kleinigkeiten im Zimmer. Lauter Kleinzeug. Alles auf dem Boden verteilt! Ein unzumutbarer Anblick! Aber heute abend bin ich raus. Versprochen!“
Zum Glück besitze ich einen glaubwürdigen Charme. So hatte ich noch einmal einen ganzen Tag Ruhe. Ich putzte mein schönes Zimmerchen durch das Anbringen schöner Fotos an der Wand neu heraus, und die WG rückte durch die gemeinsamen Planungen für ein interreligiöses Antifundamentalismuscamp im Garten näher zusammen. Wir riefen die Erdenbürger zu einer Abstimmung auf und bestimmten mit zwei Stimmen bei ca. sechs Milliarden Enthaltungen den amerikanischen Präsidenten zum ersten Pflichtteilnehmer. Es gab noch so viel zu tun. Ich konnte unmöglich ausziehen.
Also erklärte ich Daniel, dass – nachdem alle Möbel draußen waren – eine nasse Wand zum Vorschein gekommen sei („Äh, ja, ich hab erst nach dem Streichen den Schrank weggerückt.“), was eine längere Sanierung erfordere. So hatte ich eine weitere Woche, die ich Sekunde für Sekunde, Atemzug um Atemzug genoss.
Eines Morgens war ich kurz davor, den ersten Schuhkarton zu packen. Das war, als ich nicht mehr ins Badezimmer konnte, da der übliche Berg an ungespültem Geschirr mir den Weg versperrte. Er hatte die Ablage schon lange hinter sich gelassen und  verbreitete sich nun munter durch die Wohnung.
Doch die WG erwies sich als handlungsfähig und rief den WG-Rat ein. Der beschloss ein ausgeklügeltes Spülsystem, nach welchem dann nur noch einer spülen musste – nämlich der, der das System kapierte –, und so war für mich erneut kein Auszugsgrund gegeben.
Auch nicht dadurch, dass der WG-Rat sich verwundert zeigte, dass anstatt Daniel noch immer ich zur Sitzung erschienen war.
  Ich versicherte, dass das Zimmer schon völlig leer sei, dass ich aus biorhythmischen Gründen aber unmöglich bei abnehmendem Mond meine Schlafstatt wechseln könne. Und zu Daniel sagte ich: „Zum nächsten Ersten ganz bestimmt. Hundertprozentig.“
Einatmen. Bin schon gespannt, was ich ihm dann erzählen werde. Ausatmen.