www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Beamte sind ausgeglichen, ordnungsbewußt, pflichtbewußt,
verantwortungsbewußt, verwaltungsbewußt, aktenbewußt,
faktenbewußt und feierabendbewußt.
Um mein Radio für ein paar Mark weniger im Monat
nicht einzuschalten, mußte ich selbiges auf dem Sozialamt beantragen.
Dieses befindet sich – das sei nur zu Beginn einmal zur besseren Ausmalung
erwähnt – zehn anstrengende Fahrrad oder zwanzig regnerische Auf-den-Bus-warte-Minuten
von mir entfernt.
Als ich das erste Mal dort war, sah ich, daß es
nur einmal die Woche von 5.00 Uhr bis 6.00 Uhr geöffnet hat.
Als ich das zweite Mal dort war, hatten sie die Öffnungszeit
geändert.
Als ich das dritte Mal dort war, war die Schlange zu
lang.
Als ich das vierte Mal dort war, war die Schlange zu
lang und sie hatten die Öffnungszeit geändert.
Als ich das fünfte Mal – an einem zufällig
ausgewürfelten Zeitpunkt – wieder dort war, hatten sie zufällig
gerade ihre Öffnungszeit auf eben diesen Termin gelegt, und ich konnte
als einziger Kunde unbehelligt in Zimmer 22 eintreten.
Die Beamtin hatte aber nicht deshalb die Öffnungszeit
geändert, um Kundschaft zu erhalten, und beschloß, einen gnadenlosen
Kampf gegen mich zu führen.
„Ich möchte einen Antrag zur Rundfunkgebührenbefreiung.“
„Wie heißen Sie bitte?“
„Reuß mit scharf s.“
„Dann müssen sie in Zimmer 23.“
Ich verließ das Zimmer, ging eine Tür weiter,
trat ein und fand mich in genau demselben Raum wieder. Die Beamtin stand
auf, kam zu mir herüber, und schaute mich fragend an.
„Ich möchte einen Antrag zur Rundfunkgebührenbefreiung.“
„Wie heißen sie bitte?“
„Reuß mit scharf s.“
„Für einen Antrag auf Rundfunkgebührenbefreiung
brauchen sie eine Bescheinigung, daß sie Rundfunkgebühren bezahlen.“
„Wo bekomme ich die?“
„In Zimmer 22.“
Ich ging an den anderen Tresen hinüber und wartete.
Die Beamtin schnappte sich eine Zeitung, verzog sich in einen Korbsessel
am Fenster und begann zu lesen. Ich pfiff unauffällig vor mich hin.
Nichts rührte sich. Ich machte die Tür von innen auf und wieder
zu. Keine Reaktion.
Mir blieb keine andere Wahl. Ich verließ das Zimmer
durch Tür Nummer 23, ging zu Tür Nummer 22, drückte die
Klinke, drückte die Klinke kräftiger, drückte die Klinke
noch kräftiger und fluchte. Abgeschlossen. Sie hatten die Öffnungszeit
geändert.
Dann war wieder die Schlange zu lang. Dann die Öffnungszeit
wieder anders. Dann wieder anders. Dann mein Fahrrad platt. Dann Weihnachten.
Dann mein Examen. Dann hatte ich zum zweiten Mal Glück.
Ich ging in Zimmer 22 und sagte: „Ich möchte eine
Bescheinigung über meine Rundfunkgebühren.“
„Wie heißen Sie?“
„Das tut nichts zur Sache.“
„Wie heißen Sie?“
„Reuß mit scharf s.“
„Dann müssen Sie in Zimmer 23.“
„Ich weiß. Dann wieder hierher. Den Weg kann ich
mir doch –“. Als ich gerade „sparen“ sagen wollte, drehte sich die Beamtin
weg, um sich zu ihrer Zeitung zu begeben. Ich packte sie wütend am
Kragen.
„Hören Sie, Frau, das Spiel ist nicht mehr lustig!
Geben Sie mir ihre Dienstnummer!“
Ich konnte sie nicht im entferntesten aus der Ruhe bringen.
Kalt lächelnd sagte sie im Telefon-Ansage-Stil: „Meine Dienstnummer
ist 0231-V-320665.bm, wenn Sie sich beschweren wollen, können Sie
das bei Nummer 0230-B-310147.bm tun, im Vertretungsfalle auch bei Nummer
0230-H-121145.bm oder Nummer 0230-J-130260.bm. Weitere Auskünfte erhalten
Sie bei Nummer 0231-K-070781.bm, montags von 5.45 Uhr bis 6.00 Uhr und
donnerstags von 12.00 Uhr bis 12.05 Uhr, wenn der Donnerstag auf einen
allgemeinen kirchlichen, jedoch nicht staatlichen Feiertag fällt.
Wenn Sie mich jetzt bitte loslassen würden. Ich habe Feierabend.“
Ich ließ die Beamtin fallen.
All die demokratischen Träume, die ich von meinem
Staat gehabt hatte, waren mit einem Mal an dem Verwaltungsapparat zerschellt
und in mir zusammengebrochen. Ich sah keine Chancen mehr. Doch dann reifte
in mir ein gewaltiger Entschluß. Ich fühlte die kommunistische
Stärke in mir, spürte die Solidarität der Arbeiter- und
Studentenklasse hinter mir, war ein Vorkämpfer der Unterdrückten,
ein Vorreiter für die Freiheit der Völker, als ich diesen gewichtigen,
diesen mutigen, diesen politischen und revolutionären Schritt vollzog:
Ich meldete mein Radio ab.