www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Tamagotchi und Tamagotcha

Haustiere sind schmutzig, Kinderkriegen ist nicht einfach und Verantwortung lästig. Wer trotzdem nicht auf einen kleinen Balg im Haus verzichten will, kann sich inzwischen einen vollelektronischen besorgen, der Tamagotchi heißt und selbstredend aus Japan kommt.
Ein Tamagotchi hat drei Tasten und viele Wünsche. Will er essen – pieps. Will er spielen – pieps. Macht er in die Hosen – pieps. Das Handling ist einfach, man kann ihn in jeder Tasche herumtragen, und ist er tot, drückt man die Reset-Taste. Albern ist das, und sonst nichts.
Da ich dennoch mal wieder den Drang verspürte, up to date zu sein, kaufte ich mir – aus reiner Neugier – so ein Ding für 49,90 und begann ein neues Leben als Vater. Was ich nicht wußte: Ich hatte das Nachfolgermodell erworben.
Am Anfang war alles normal. Mein fünfmarkstückgroßer Computer piepste, wenn ihm etwas nicht paßte, störte mich aber ansonsten kaum bei der Arbeit.
Nur dann und wann mußte ich ein Telefonat abbrechen, um meinen Tamagotchi zu wickeln. Doch eines Nachts geschah das Unglaubliche: Meinem Tamagotchi wuchsen zwei Arme und zwei Beine. Ich war einigermaßen verblüfft, konnte mir den Gag allerdings bald technisch erklären. Nach einer gewissen Zeit werden – ähnlich wie beim Airbag – mit Hilfe eines Gases die Extremitäten aufgeblasen.
Zum Lachen war mir nur kurz zumute. Von nun an konnte mein Tamagotchi frei in der Wohnung umherlaufen, Schränke ausräumen, Vasen zerscheppern, Wände bemalen - er war wie ein normales Kind. Mit drei Jahren (also nach drei Menschentagen) begann er zu reden. Nicht gut verständlich, aber dennoch. „Essen – pieps“, „Spielen – pieps“, „Papa – pieps“ – später nur noch „Papa“.
Ich genoß, nicht mehr allein in meiner Wohnung sein zu müssen, erzählte meinen Freunden amüsiert von den Ereignissen, doch mein Tamagotchi – ich nannte ihn nun Kurt – wurde älter. Mit sechs Jahren wollte er plötzlich in die Schule. Ich wußte nicht, wie ich das bewerkstelligen sollte, bis ich auf die Idee kam, ihn an meinen Rechner anzuschließen. Ich lud mein Rechtschhreibprogramm und ließ Kurt einen halben Tag vor dem Computer sitzen. Er lernte fleißig.
Morgens Schule, mittags spielen. Diesen Turnus hielten wir durch, bis Kurt 15 war. Dann ging es ihm plötzlich immer schlechter. Er nahm innerhalb von einer Stunde 5 Kilogramm ab und seine Gute-Laune-Punkte sanken in den roten Bereich. Ich versuchte alles (essen, spielen, mehr essen, mehr spielen), um ihn aufzupeppeln, bis ich endlich kapierte: Kurt war einsam.
Zufällig entdeckte ich in der Tageszeitung eine Kontaktanzeige: „Tamagotcha sucht Tamagotchi  zum gemeinsamen Zeitvertreib.“
Ich rief an und vereinbarte ein Treffen für Kurts siebzehntes Lebensjahr. Leider war der Vater der Tamagotcha ein abscheulicher Typ. Am liebsten hätte ich Kurt den Umgang mit seiner Tochter verboten, doch für Kurts Wohl war ich zu allem bereit. Wir verkabelten Kurt und die Tamagotcha, und siehe da: Beiden ging es schlagartig besser. Das Dumme war nur: Sobald ich Kurt abkoppelte und mit nach Hause nahm, sank seine Laune.
In der Nacht wurde ich brutal aus meien Träumen gerissen - das Geräusch eines frisierten Mofas röhrte unter meinem Kopfkissen (da liegt Kurt). Ich nahm Kurt her, und er erzählte mir lallend, daß er mit Kumpels einen saufen war. Um ihn nicht auf die schiefe Bahn geraten zu lassen, bin ich mitten in der Nacht zu dem abscheulichen Typ am anderen Ende der Stadt gefahren, weil eine Freundin jedem gut tut, so auch Kurt.
Und schon am nächsten Tag, Kurt war jetzt neunzehn, leuchtete auf dem Display der Tamagotcha ein Gutschein für ein Baby-Tamagotcha auf. Ich war Großvater!
Leider konnten der abscheuliche Typ und ich uns nicht auf das Sorgerecht einigen (Nun, wir einigten uns schon, nur eben falsch). Das Baby blieb bei der Tamagotcha, und ich brachte Kurt jeden Tag zu Frau und Kind ans andere Ende der Stadt.
Seid gestern hat die anstrengende Fahrerei ein Ende. Kurt ist ausgezogen. Die Entscheidung fiel mir unendlich schwer. Aber ich glaube, daß es das Beste für Kurt ist. Ich hoffe, er wird glücklich. Die Aussteuer, die er mitbekommen hat: eine Ersatzbatterie.