www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum
Universität und Ellenbogen – das passt doch nicht
zusammen, dachte ich immer und hatte dabei gesellige Feiern, gegenseitige
Kopierleistungen und kaffeehaltige Seminare im Blick. Den Ellenbogen können
Studenten trotzdem auspacken, und zwar genau dann, wenn es darum geht,
die gemeinsamen Feiern zu retten.
Ich für meine Person hatte mich nach den ersten
Semestern auf die Seite der eher braven Studenten geschlagen. Man muss
sich das dann so vorstellen, dass ich mir zumindest vornahm, jede Veranstaltung
zu besuchen, dass ich mir wenigstens Mühe gab, auf Aushänge zu
achten, und dass ich wirklich jede Woche einmal anwesend war, wenn nichts
anderes dazwischen kam.
Darin unterschied ich mich fundamental von den meisten
übrigen Studenten. Und irgendwie im Innern hatte ich daher immer gedacht,
ich hätte dadurch einen gewissen Vorteil, wenn es einmal hart auf
hart kommen sollte, glaubte also an eine Art Gerechtigkeit, die die Tapferen
belohnt, indem sie sie vor den weniger Tapferen schützt.
Das Schützen, so stellte ich mir in Gedanken heimlich
vor, ohne mich zu trauen, es anderen zu verraten, das Schützen sollte
meiner Ansicht nach etwa darin bestehen, dass ich als Tapferer die wichtigen
Aushänge alle mitbekam, während den weniger Tapferen der eine
oder andere wichtige Aushang durch die Lappen ging, da wichtige Aushänge
nicht am Ballermann 6 auf Mallorca hingen, sondern in der Regel im Altpapiercontainer
im zweiten Untergeschoss des aufgrund chemischer Verseuchungen unter Karantäne
stehenden Mensa-Essen-Kühl-Gebäudes lagen.
In der vierten Woche des letzten Sommersemesters fiel
mein Studientag auf den Mittwoch. Bevor ich meine Veranstaltung besuchte,
drang ich ins Mensa-Essen-Kühl-Gebäude ein, vergiftete mich und
durchwühlte nebenher den Altpapiercontainer. Wie nicht anders erwartet,
lag dort unter vielen unwichtigen ehemaligen Kopien ein Aushang, der nicht
nur wichtig, sondern dieses eine Mal besonders wichtig war: Es ging um
Prüfungen.
Doch das war nicht der eigentlich wichtige Punkt an dem
Aushang, denn Prüfungen nehmen Studenten mit wie andere Leute eine
Curry-Wurst in der Pommesbude. Nein, wichtig an diesem Aushang war der
Termin dieser Prüfung. Zwei Tage waren dafür vorgesehn, ein Donnerstag
und ein Freitag, und damit war das Unheil bereits vorprogrammiert, denn
Freitag, so lernt man schon im ersten Semester, ist es vollkommen unmöglich,
eine Prüfung abzulegen, Curry-Wurst hin oder her, wo doch Donnerstag
nachts immer in der Geräuschgarten-Disco die Getränke nur die
Hälfte kosten.
Nun gut, dachte ich bei mir, zahlt es sich für mich
endlich aus, ein Tapferer unter den Studenten zu sein, gehe ich also zu
der auf dem Aushang anfgekündigten Veranstaltung hin, in der
die Termine vergeben werden, trage mich für den Donnerstag ein, lege
eine ordentliche Curry-Wurst-Prüfung ab und besaufe mich trotzdem
im Geräuschgarten.
Doch ich hatte in diesem Gedankengang einen ganz einfachen
Mechanismus ignoriert. Es gibt nämlich einen Mechanismus an der Uni,
der dafür sorgt, dass alle Studenten, sollte es wirklich einmal um
etwas Wichtiges gehen, instinktiv und in Minutenschnelle auf der Matte
stehen.
Oft schneller als ich. So traute ich zunächst meinen
Augen nicht, als ich zur angegebenen Zeit am angegebenen Ort eintraf. Schlangen
über Schlangen bereits am Eingang. Sitzplätze Mangelware. Dicke
Luft. Sauerstoffmangel. Schlechte Sicht.
Mir blieb keine andere Wahl als mich treiben zu lassen,
und die Gerechtigkeitsgöttin meinte es sogar angemessen gut mit mir
und trieb mich nach vorne in die Mitte des Raumes. Sofern das Gewühle
überhaupt in Reihen zu beschreiben ist, könnte man sagen, ich
befand mich in Reihe drei, nur zwei Armlängen von den Listen entfernt,
die nachher über Leben und Tod, also über Saufen und Nicht-Saufen
entscheiden sollten.
Bevor wir uns eintragen durften, mussten wir uns allerdings
zwei Stunden lang eingezwängt anhören, dass das Studieren im
Grunde wichtig sei und wir vermutlich nach dem Studium einen Beruf im gleichen
Fach ergreifen würden. Doch leider, leider verfehlte die eindringliche
Rede ihren Zweck: Am Ende der zweistündigen Rede waren immer noch
alle da.
Dann das unvermittelte, leichtfertig dahin gesagte Signal:
„Ihr könnt euch jetzt eintragen.“
Mein erster Gedanke war, meinen Stift mit einem dergestaltigen
Drall nach vorn zu werfen, dass er von alleine meinen Namen schrieb, doch
noch ehe ich überhaupt den Gedanken zu Ende denken und mir der Sinnlosigkeit
bewusst werden konnte, lag ich schon unter einer dicken Schicht von Mitstudenten
begraben.
Sehen konnte ich in dieser misslichen Lage nichts, denken
schon gar nicht, denn ob der Szenen, die sich über mir abspielten,
blieben mir glatt die Gedanken weg, nur später, sehr viel später,
konnte ich an Hand meines Unterbewusstseins rekonstruieren, was meine Ohren
in diesen endlosen Sekunden vernommen haben mussten: zerberstende Tische,
brechende Zehen-Knochen, abknickende Stifte, grelle Schreie, springendes
Glas, zerreißendes Papier, unterdrücktes Kreischen, und schließlich
das dumpfe Knallen einer umfallenden Wand.
Dadurch, dass die Wand nachgeben hatte, wurde ich plötzlich
wie inmitten einer großen Welle einige Meter nach vorne gespült
und kam dort unsaft erneut zum Liegen. Eine missliche Situation, mag man
angesichts dieser Schilderungen denken, doch noch immer glaubte ich an
die Gerechtigkeit, und sie glaubte offensichtlich auch an mich. Denn drei
Zentimter unter meinem rechten Auge konnte ich schon nach wenigen Minuten
den Ausschnitt eines Stückes Papier erkennen, und bei anhaltender
Konzentration sogar den Schriftzug “Donnerstag” und eine leere Zeile dahinter.
So weit keine schlechte Ausgangsposition. Ich musste
nun eigentlich nur noch ohne Zuhilfenahme meiner Hände, die sich in
anderen Körpern verkeilt hatten, den Kugelschreiber aus meiner Hosentasche
nehmen, zum Blatt unter meiner Nase führen, meinen Namen malen, ohne
mir dabei ins drei Zentimeter darüber liegende Auge zu stechen, forthin
das Blatt vor Fremdeinwirkungen hüten, zwei Tage ausharren, bis sich
das Chaos über mir beseitigt hatte, und das Ganze, ohne die Aufmerksamkeit
der anderen auf mich zu ziehen. Genau so machte ich es.
Nachdem ich mich mehrfach versichert hatte, der einzige
im Raum verbliebene lebende Mensch zu sein, erhob ich mich dann, betrachtete
nochmals voller Heldenstolz das Stück Papier, welches mein Name zierte,
und realisierte vor dem Schriftzug „Donnerstag“ den nicht minder bedeutenden
Schriftzug „Mülldienst am“.
Ich rief umgehend meinen Anwalt an. Wir haben sofort
geklagt. Aber das Verfahren gegen die Gerechtigkeit läuft noch.