www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Unternehmen Zugkunft I

Die Deutsche Bahn AG rechnet in diesem Jahr mit einem deutlichen Anstieg der Fahrgastzahlen. Das ist nicht irgendwie utopisch, sondern gut begründet, schließlich unternimmt die Bahn alles, um ihren Kunden den bestmöglichen Service zu bieten. Die jüngst eingeführten Abenteuer-Zuschläge waren nur eine logische Folge der Service-Offensive für mehr Unterhaltung während der Fahrt. Und außerdem: Die Fahrgäste durften doch zuletzt immer häufiger besonders lange für dasselbe Geld im Zug sitzen bleiben. Im Verhältnis dazu nimmt sich der kleine Preisaufschlag doch sehr gering aus.
Die Deutsche Bahn AG wäre aber nicht die Deutsche Bahn AG, wenn sie sich auf bereits eingefahrenen Lorbeeren ausruhen würde. Nein! Niemand käme auf diese Idee. Im Gegenteil: Bald schon soll der flexible Tarif eingeführt  werden nach dem Erziehungskonzept. Bedeutet: Fahre ich, wenn alle fahren, nehme ich einen Kredit auf und zahle einen riesen Batzen Geld. Fahre ich, wenn keiner fährt, nehme ich einen Kredit auf und zahle nur einen mittleren Batzen Geld. Ich kann mir schon bildlich vorstellen, was dann passieren wird.
Ich werde mal wieder nach Dortmund unterwegs sein und natürlich nichts von dem neuen Tarif mitbekommen haben, weil diese Notiz nicht auf den Sportseiten aufgetaucht sein wird. Ich werde nicht der einzige sein, der nur die Sportseiten gelesen haben wird. Also wird der Zug nach Dortmund einmal mehr keine freien Sitzplätze haben, da an diesem Tag wieder Sonntag abend sein wird, abgesehen von den besetzen Sitzplätzen werden die Gänge mit Leuten voll sein, die keinen Sitzplatz mehr bekommen haben werden, und an den Türen werden sich die Leute zerquetschen, die in den Gängen keine Plätze mehr bekommen haben werden. Ich werde wieder zwischendrin hängen und in unangenehmem Rhythmus die vollautomatische Schiebetür ins Kreuz bekommen.
Das alles werde ich für völlig normal erachten. Als nicht minder normal werde ich den Schaffner einstufen, der sich – wie auch immer das ergonomisch möglich sein wird – laut zählend durch die Einheitsmasse aus Bahnreisenden zaubern wird, aus dem einfachen Grund, daß bei der Bahn einfach nichts mehr zum Wundern ist.
„Dreitausendzweihundertelf. Dreitausendzweihundertzwölf.“
Einige Signalstörungen später wird sich der Schaffner den gleichen Weg wieder zurückzaubern und bei jedem Passagier anhalten. Er wird höflich aber bestimmt sagen: „Fahrkartenkontrolle. So, bitte, wer noch zugestiegen?“. Dann wird er jedem, der noch zugestiegen, erklären, daß er an diesem Tag nicht alleine im Zug ist, was dieser bereits an Atemnot, zertretenen Füßen und einem Rippenbruch rechts erahnt haben wird, sondern nur einer von 4623 Fahrgästen (von denen nur rund 500 einen Sitzplatz haben), was außerordentlich bedauerlich sei, vor allem, weil das summa summarum einen Zuschlag von 350,- DM ausmache nach den neuen, bekannten Tarifen.
Ich werde das rechtzeitig hören, werde auf die lächerliche Idee kommen, mich auf der Toilette zu verstecken, bevor ich mich dran erinnern werde, zwischen schwitzenden Rauchern und rauchenden Schwitzern eingekeilt zu sein, werde zähneknirschend einen Kredit aufnehmen und 350,- DM bezahlen und mir schwören, nie wieder Zug, zumindest nicht Sonntag abends, zu fahren.
Ich werde mich von dem Schock erholen, mich schon bald unheimlich clever fühlen angesichts der Vorstellung, mittwochs um 5 Uhr morgens Zug zu fahren und eine Menge Geld zu sparen, werde vor der nächsten Fahrt eine halbe Woche Studium weglassen, mich nachts zum Bahnhof schleppen, einsteigen, in nicht gekannten Menschenmassen steckenbleiben und schlagartig erkennen, daß sich auch die anderen 4622 Fahrgäste geschworen zu haben scheinen werden, nie wieder sonntags Zug zu fahren. Ich werde einen neuerlichen Kredit aufnehmen müssen und einen unheimlich rieseigen Batzen Geld bezahlen.
Dieses Spiel wird sich in regelmäßigen Abständen fortsetzen. Ich werde meinen Lebensrhythmus aufgeben, werde Nachtzüge kennenlernen und Nebenstrecken, werde an Wochentagen fahren, die ich noch nie kannte, werde Umwege in Kauf nehmen und sogar über Sachsen fahren, aber was immer ich auch anstellen werde, um vollen Zügen auszuweichen, ich werde Mal für Mal nur einen Schritt in den Zug hineinpassen, Kredit für Kredit aufnehmen und Batzen für Batzen Geld ausgeben. Nur weil ich mich für cleverer gehalten haben werde als die anderen, und doch nur haargenau so clever wie die anderen bin.
Aber eines Tages, meine Augen funkeln jetzt schon, wenn ich nur daran denke, wird die Bank alles verpfändet haben, was ich besitze, und ich werde zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben meinen einzigen Schwur brechen, den ich jemals schwören werde, und ich werde sonntags, und zwar abends, zur besten Zeit, nach Dortmund fahren, und ich werde den ganzen Zug für mich haben und werde mich austoben können wie ein Kind, und der Schaffner wird verbittert auf „eins“ zählen, seinen Taschenrechner zücken, mir ratlos aufgerundet einen Pfennig aus der Tasche ziehen, für den ich keinen Kredit aufnehmen werden muß, und ich werde wieder ausgesöhnt sein mit der Bahn, für einen Tag. Immerhin.