www.albrecht-reuss.de | Stand: 12.12.2008 | Impressum

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Unternehmen Zugkunft II

Auf die einfachsten Ideen kommt man immer erst zuletzt. Und hinterher hat man es dann immer schon gewußt und fragt sich ganz heimlich, warum man nicht schon früher draufgekommen war.
Auch die Deutsche Bahn AG hat erst alles andere versucht, um ihre Verspätungen zu beheben. Alles hat entweder nichts gebracht oder ist ergebnislos geblieben. Doch nur ganz wenig war umsonst. So hat etwa der Versuch, jeden Lokführer zu entlassen, dessen Zug unpünktlich war, zu keiner Verbesserung geführt. Auch die Einstellung eines Pünktlichkeitsmanagers, der die Verspätungen addieren und dann durch eine beliebige Zahl größer als eine Milliarde teilen sollte, um in der Öffentlichkeit gut dazustehen, fruchtete kaum. Schließlich schloß man alle Bahnhöfe, sperrte die Fahrgäste aus und hoffte, durch den Wegfall lästigen Ein- und Aussteigens schneller zu sein. Das Ergebnis schien zunächst grandios. Irgendwo in Mecklenburg-Vorpommern, so munkelte man, sei die Fünfuhrvierzig-Regionalbahn noch innerhalb der Fünf-Minuten-Toleranz-Grenze aus ihrem Depot gefahren.
Nach diesem bundesweiten, durchschlagenden Erfolg auf der ganzen Linie verfolgte die Bahn diese Strategie für die nächsten zehn Jahre weiter. Nachdem allerdings dem Pünktlichkeitsmanager keine Zahl mehr einfiel, die groß genug war, um die Gesamtverspätung im Schnitt auf unter eine Stunde zu drücken und alle Lokführer entlassen worden waren bis auf Henning Jansen aus Mecklenburg-Vorpommern, der nach einer Sechs-Minuten-Verspätung am 27. März 1999 freiwillig seinen Vorruhestand angetreten hatte, mußte die Bahn umsteuern.
Und endlich wurde die Idee geboren, auf die man immer erst zuletzt kommt.
Nun fahren alle Züge pünktlich. Ich wiederhole: alle. Pünktlich. Ich habe es selbst erlebt auf meiner letzten Fahrt nach Dortmund. Ich stand wie immer an Bahnsteig eins und überlegte, wie ich die nächsten zweieinhalb Stunden rumbringen sollte, die der Zug üblicherweise Verspätung hatte, ehe ein Hilfs-Pünktlichkeitsmanager versuchte, die Sache herunterzuspielen und sagte: „Einfahrt hat blablabla, Abfahrt war 18 Uhr 05.“
Ich wartete auf die übliche Verspätungsmeldung von fünf Minuten, ehe ich in den Buchladen verschwinden wollte, doch die Meldung kam nicht. Nicht einmal, als die Uhr auf 18 Uhr 05 schnappte. Ich dachte, oh, der Zug wird doch nicht etwa heute noch kommen? und wartete weiter auf die Verspätungsmeldung. Ich wartete. Und während ich noch so da stand und wartete, wartete ich auf den Zug und die Verspätungsmeldung. Ich wartete und schaute beiläufig zur Uhr, um zu sehen, ob wir noch 1999 hatten, doch was sah ich: 18 Uhr 05. Ich dachte: Schon ein Tag vergangen? Habe ich die Jahrtausendwende verpaßt? Ich schaute genauer. 18 Uhr 05. Ich schaute immer wieder, und immer wieder las ich die Zeiger ab, ordnete kleinen und großen Zeiger perfekt zu, erkannte: 18 Uhr 05. Hatte ich einen Zeitflash bekommen? Rasten die Tage nur noch so an mir vorüber? Doch wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte keine Bewegung in den Zeigern erkennen. 18 Uhr 05. 18 Uhr 05. Zur Abwechslung wartete ich ein wenig. Bis 18 Uhr 05. Dann ging ich warten und kam um 18 Uhr 05 wieder. Nach etwas Warten kam um 18 Uhr 05 dann die Durchsage: „Auf Gleis eins fährt ein der Eurocity aus Mailand zur Weiterfahrt nach Dortmund über Stuttgartheidelbergmannheimkoblenzbonnkölnduisburg. Abfahrt ist 18 Uhr 05. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt.“ Zum erstenmal pünktlich!
Erleichtert stieg ich ein, weil ich vermutete, dieses eine Mal eine realistische Chance im rechenbaren Bereich auf meine S-Bahn in Bochum zu haben.
An diesem Tag war der Zug sogar etwas schneller als üblich. In Stuttgart sah ich am Gleis nebenan eben noch den 17 Uhr 51-ICE abfahren, und selbst der schien nach der Bahnsteiguhr pünktlich zu sein. Zu meiner Verwirrung zeigte die Uhr am Gleis nebenan bereits unsere Abfahrtszeit: 19 Uhr 11. Wir blieben pünktlich.
In Heidelberg fuhr der Zug ein, die Zeiger der Bahnhofsuhr liefen um die Wette, ich dachte schon wieder, ich befände mich im Zeitflash, doch auch dieser Spuk hatte um 19Uhr 53 ein apruptes Ende: unsere Abfahrtszeit.
Pünktlich der Zug auch noch in Koblenz, Bonn und Köln. Hier konnte man besonders gut alle Bahnsteige überblicken, wobei ich eine Zeitdifferenz von acht Stunden ausmachte. Nun gut. Der Kölner Bahnhof wurde gerade renoviert. Vielleicht hatten die Techniker da was falsch geschaltet.
Und das erste Mal kam ich wenige Bücher später auf die Sekunde genau nach Fahrplan in Bochum an, sang ein Loblied auf die Bahn, fühlte mich als Bahnfetischist ein einziges Mal den Autoliebhaber-Raser-Huper-Bahn-fahren-geht-doch-eh-immer-schief-Pessimsten moralisch überlegen und rannte zur S-Bahn, um sie vielleicht gerade noch zu erwischen, und siehe da: das Glück war mir hold. Es war gerade noch 23 Uhr 34, so daß die Bahn jeden Augenblick kommen mußte. Sie kam dann auch im Morgengrauen um 23 Uhr 34 pünktlich wie die Bahn, ich war also um 23 Uhr 48 an der Uni, so daß ich noch etwas Schlaf bis zur Vorlesung haben würde.
Doch als ich ankam, war das Wohnheim gerade einer Umgehungsstraße gewichen. Fertigstellungsdatum: Juni 2002.